# taz.de -- Geschlechterverhältnisse in AKW-Nähe: Sag mir, wo die Mädchen sind
       
       > Untersuchungen zeigen, dass rund um Atomanlagen mehr Jungen geboren
       > werden. Ein Humangenetiker vermutet eine höhere Strahlenempfindlichkeit
       > des X-Chromosoms.
       
 (IMG) Bild: Die genaue Ursache der „Geschlechterlücke“ im Umkreis von AKWs ist noch immer unbekannt.
       
       BERLIN taz | Im nahen Umkreis von Atomanlagen werden weniger Mädchen
       geboren, als normalerweise zu erwarten ist. „Eine besonders starke
       Verschiebung des Geschlechterverhältnisses haben wir im Umkreis des
       Atommüllzwischenlagers Gorleben festgestellt“, berichtete der
       Biostatistiker Hagen Scherb am Freitag bei der [1][Deutschen Umwelthilfe
       (DUH)] in Berlin.
       
       Obwohl diese Daten schon länger vorlägen, sei die genaue Ursache der
       „Geschlechterlücke“ noch immer unbekannt. Umso dringlicher sei es, dass
       endlich eine umfassende Untersuchung durchgeführt werde, forderte
       DUH-Sprecher Gerd Rosenkranz.
       
       Das Phänomen der „verlorenen Mädchen“ tritt auch auf, wenn die radioaktive
       Strahlung weit unter den zulässigen Grenzwerten liegt. Schon nach den
       Atombombenexplosionen in Hiroshima und Nagasaki konnte ein verändertes
       Geschlechterverhältnis festgestellt werden.
       
       Bei der Diskussion über die Auswirkungen radioaktiver Strahlung spielten
       diese Erkenntnisse jedoch keine Rolle. Erst die Studien des
       [2][Biostatistikers Hagen Scherb] und seiner KollegInnen vom
       Helmholtz-Zentrum München brachten diese Befunde wieder in die aktuelle
       Diskussion.
       
       ## Im Umkreis von 32 AKWs
       
       Scherbs umfangreiche Auswertungen von Geburtsregistern konnten nicht nur
       zeigen, dass die Verschiebung des Geschlechterverhältnisses bei
       Neugeborenen nach den oberirdischen Atombombentests in den Falloutgebieten
       auftrat. Auch nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl trat dieser Effekt
       in den Falloutregionen Europas auf, jedoch nicht in den kaum betroffenen
       USA.
       
       Inzwischen stellten die Biostatistiker Untersuchungen im Umkreis von
       weiteren 32 Atomanlagen in Deutschland, Frankreich und der Schweiz an. Die
       Ergebnisse sind beeindruckend: Überall ein ähnliches Bild. Im Umfeld der
       Anlagen verschob sich das Geschlechterverhältnis von Neugeborenen zugunsten
       der Jungen.
       
       „Besonders drastisch ist das Ergebnis im Umfeld des Atommüllzwischenlagers
       in Gorleben“, sagte Scherb. In der Zeit von 1981 bis 1995 kamen dort in
       einem 40-Kilometer-Umkreis 6.939 Jungen und 6.922 Mädchen zur Welt, das
       Geschlechterverhältnis betrug 1,0025.
       
       Ein Jahr nach Beginn der Castortransporte stieg dieser Wert stark an: Für
       den Zeitraum von 1996 bis 2010 berechnete Scherb einen
       Durchschnittsverhältnis von 1,0865. Bei insgesamt 23.135 Geburten in diesem
       Zeitraum gebe es somit eine „Lücke von fast 1.000 Mädchen“, so der
       Biostatistiker.
       
       ## Niedersachsen gab eigenes Gutachten in Auftrag
       
       Die Ergebnisse sind „signifikant“, sagte Scherb. „Sie werden auch von den
       etablierten Strahlenschützern nicht infrage gestellt.“ Um Scherbs
       Gorleben-Ergebnisse zu widerlegten, gab das [3][Niedersächsische
       Landesgesundheitsamt sogar ein eigenes Gutachten in Auftrag]. Das Ergebnis:
       Scherbs Auswertungen sind korrekt. Doch dass die Castorbehälter mit dem
       Atommüll die Ursache ist, daran wollen die Gegengutachter nicht glauben.
       
       Als eine der Ursachen vermutet der Berliner Humangenetiker Karl Sperling
       eine höhere Strahlenempfindlichkeit des X-Chromosoms. Mädchen haben zwar
       zwei, und eines davon ist weitgehend deaktiviert – aber mit nur einem sind
       sie nicht lebensfähig. Eine Schädigung der X-Chromosomen während der
       Embryonalentwicklung als Ursache würde auch dazu passen, dass die Lücke mit
       einem Jahr Verzögerung auftritt.
       
       27 Apr 2012
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.duh.de/atomenergie.html
 (DIR) [2] http://www.helmholtz-muenchen.de/ibb/homepage/hagen.scherb/index.html
 (DIR) [3] http://www.nlga.niedersachsen.de/portal/live.php?navigation_id=30406&article_id=104838&_psmand=20
       
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 (DIR) Wolfgang Löhr
       
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