# taz.de -- Freie Wahl des Geschlechts in Argentinien: So, wie jede Person es fühlt
       
       > In Argentinien darf künftig jede und jeder selbst das eigene Geschlecht
       > bestimmen – ganz ohne Hormonbehandlung oder Chirurgie. Es ist ein
       > weltweit einmaliges Gesetz.
       
 (IMG) Bild: Die Freude vor dem Kongress in Buenos Aires war groß.
       
       BUENOS AIRES taz | „Wir sind nicht mehr die Vergessenen der Demokratie.“
       Marcela Romero ist zufrieden. Mit über tausend Gleichgesinnten hatte die
       Vorsitzende der argentinischen Transvestiten-, Transsexuellen- und
       Transgeschlechtervereinigung vor dem Kongressgebäude in der Hauptstadt
       Buenos Aires ausgeharrt. Gewartet hatte sie auf die Abstimmung zum Gesetz
       über die Geschlechteridentität.
       
       Zukünftig kann in Argentinien jede und jeder ihre und seine
       Geschlechtszugehörigkeit frei und selbst bestimmen. Am Mittwochabend
       votierte der Senat mit 55 Stimmen dafür, 17 SenatorInnen enthielten sich,
       Gegenstimmen gab es keine. Da das Abgeordnetenhaus bereits vergangenen
       November zugestimmt hatte, brandete vor dem Kongress der Jubel auf.
       
       Nach dem Gesetz wird die Geschlechtszugehörigkeit allein durch das innere
       und individuelle Erleben des Geschlechts bestimmt, so „wie es jede Person
       fühlt“, unabhängig von der Geschlechtsbestimmung bei der Geburt. Auch der
       bisher notwendige medizinische Nachweis einer Geschlechtsumwandlung ist
       abgeschafft. Die nationalen Meldestellen werden jetzt angewiesen,
       Änderungen in Geburtsurkunden und Ausweispapieren gratis vorzunehmen.
       
       Vorbei sind die Zeiten, in denen die Betroffenen vor Gericht ziehen mussten
       und in langwierigen Prozeduren die Änderung ihres Namens und der
       Geschlechtseintragung im Personenregister erkämpfen mussten. Zehn Jahre
       musste Marcela Romero juristisch um ihre Anerkennung als Frau kämpfen.
       „Damit ist jetzt Schluss,“ so die 48-Jährige, die mit ihrer Organisation an
       der Ausarbeitung des Gesetzes mitgewirkt hat. Einzige Einschränkung des
       Gesetzes: Nicht jeder kann beliebig oft sein Geschlecht wechseln. Das geht
       nur beim ersten Mal künftig problemlos, bei einem erneuten Wechsel muss
       weiterhin juristisch gestritten werden.
       
       Minderjährigen garantiert das Gesetz ebenfalls die freie Geschlechterwahl.
       Sollten Eltern oder andere Erziehungsberechtigten die notwendige Zustimmung
       verweigern, kann die minderjährige Person einen sogenannten Kinderanwalt
       anrufen. Zudem wurden die öffentlichen und privaten Krankenversicherungen
       zur Kostenübernahme von geschlechtsverändernden Behandlungen und Eingriffen
       verpflichtet. Damit werden auch hier jahrelange Wartezeiten und bisher
       notwendige richterliche Genehmigungen abgeschafft.
       
       ## Düstere Gegenwart
       
       Die peronistische Senatorin Sonia Escudero malte dennoch ein düsteres Bild
       der Gegenwart. Über 90 Prozent der Transsexuellen arbeiten in der
       Prostitution. Wer sich zur transsexuellen Gemeinschaft zählt, habe eine
       Lebenserwartung von 35 Jahren, so die Senatorin. „Die Zahlen zeigen, dass
       95 Prozent der landesweit geschätzten 22.000 Personen keinen Zugang zu den
       fundamentalsten Menschenrechten haben,“ so die Senatorin.
       
       Argentinien übernimmt damit nach der Verabschiedung des Gesetzes zur
       Zulassung der Ehe von gleichgeschlechtlichen Paaren im Jahr 2010 abermals
       eine Vorreiterrolle in Lateinamerika. Für Justus Eisfeld von der New Yorker
       ‘Global Action for Trans Equality’ hat das argentinische Gesetz sogar einen
       weltweiten Vorbildcharakter. „Das ist dem, was in den meisten Ländern gilt,
       um Lichtjahre voraus,“ so Eisfeld. „Die Tatsache, dass keinerlei
       medizinische Anforderungen gestellt werden, wie Chirurgie, Hormonbehandlung
       oder auch nur eine Diagnose, ist weltweit einmalig.“
       
       Dass die Präsidentin mit ihrer Unterschrift das Gesetz in Kraft setzt,
       daran zweifelt niemand. Mit Lob für Cristina Kirchner wurde denn auch nicht
       gespart. „Seit der Regierung Perón bis heute hat man uns weitgehend
       ignoriert. Diese Präsidentin ist die erste, die uns den Platz gegeben hat,
       der uns zusteht,“ sagt Malva, die mit ihren 90 Jahren als die älteste
       Transvestitin des Landes gilt.
       
       Auch wenn sie politisch mit der Präsidentin in vielem nicht übereinstimme,
       „Cristina Kirchner war die einzige Präsidentin, die uns Transvestiten
       empfangen hat,“ so Malva. Sie werde ihre Ausweise jedoch nicht mehr ändern
       lassen. „Auf der Straße begrüßen sie mich mit Señora, am Bankschalter mit
       Señor.“ Ihr mache das schon lange nichts mehr aus. Dieses Gesetz sei
       wichtig für die kommende Generation. „Auf dass sie alles genieße, was wir
       nicht genießen durften.“
       
       11 May 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jürgen Vogt
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Kolumbien
       
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