# taz.de -- Direkte Demokratie: Kopf oben, Bahnhof unten
       
       > Warum es wichtig ist, den Stuttgart-21-Volksentscheid anzuerkennen: Über
       > einen angemessenen Umgang mit unangemessenen Wahlergebnissen.
       
 (IMG) Bild: S-21-Gegner Boris Palmer im Einsatz.
       
       Stuttgart 21 bleibt ein Fehler, aber den müssen wir jetzt machen.
       
       Die Bäume im Stuttgarter Schlosspark sind gefällt, der markante Südflügel
       des Bahnhofs ist bald Architekturgeschichte. Die Mehrheit im Land hat das
       so gewollt. Eine starke, überzeugte Minderheit will sich damit aber nicht
       abfinden. Aus zahllosen Briefen weiß ich, dass viele Menschen, die mit mir
       für den Kopfbahnhof gekämpft haben, nun Betrug und Verrat wittern. Im Kern
       läuft die Argumentation darauf hinaus, dass die Bevölkerung hinters Licht
       geführt worden sei und sich anders entschieden hätte, wenn sie nur die
       Wahrheit erfahren hätte. Ausgeschmückt wird diese These mit vielen
       zutreffenden Hinweisen auf irreführende Informationen und die finanzielle
       und organisatorische Übermacht der Kampagne gegen den Ausstieg aus
       Stuttgart 21.
       
       Und ja, es stimmt, dass die Ausstiegskosten mit 1,5 Milliarden Euro maßlos
       übertrieben wurden. Ja, es stimmt, dass allein der Verband Region Stuttgart
       eine Million Euro in eine Kampagne investiert hat, die nur notdürftig als
       Information getarnt wurde. Ja, es stimmt, dass die Bahn sich um einen
       echten Stresstest herumgemogelt hat. Ja, es stimmt, dass die wahre
       Leistungsfähigkeit des Kopfbahnhofs bewusst klein geredet wurde. Ja, es
       stimmt, dass die Kosten des Projekts noch immer geschönt sind und die dicke
       Rechnung am Ende kommt. Ja, es stimmt, dass die Planung und Umsetzung des
       Projekts von erschreckendem Dilettantismus geprägt ist und für wichtige
       Abschnitte nicht einmal eine vernünftige Planung vorliegt.
       
       All das ist im Abstimmungskampf tausendfach vorgebracht worden. Doch wer
       glaubt, die Leute hätten sich anders entschieden, wenn sie nur das gewusst
       hätten, was man selbst für die Wahrheit hält, irrt sich.
       
       So ist auffällig, dass die Mehrheiten gegen den Ausstieg in ländlichen
       Gebieten Baden-Württembergs besonders groß waren. Vereinfacht gesagt, ist
       die Zustimmung zu Stuttgart 21 in einem Landkreis umso größer, je weniger
       Züge dort verkehren. Aus dieser Beobachtung wird sofort klar, dass all die
       guten Argumente für den Kopfbahnhof und gegen den Engpass unter der Erde
       gar nicht fruchten konnten, weil sie für viele Menschen im Land gar keine
       Rolle spielten. Wenn es aber gar nicht um den Bahnverkehr ging, dann war
       etwas anderes entscheidend. Und das kann nur die Aufladung des Projekts mit
       den Begriffen Fortschritt und Wohlstand gewesen sein. Wir haben uns als
       Kopfbahnhofsverfechter nicht genügend Mühe gemacht, dieses große Märchen zu
       entlarven, und stattdessen lieber Züge in der Spitzenstunde gezählt.
       
       ## Mythische Überhöhung
       
       Eine zweite Beobachtung: Die Zustimmung ist im oberschwäbischen Raum
       besonders groß. Von Ulm bis Friedrichshafen hat Stuttgart 21 eine Mehrheit
       von über zwei Dritteln erhalten. Andererseits gibt es Mehrheiten gegen
       Stuttgart 21 in ganzen Landkreisen nur im badischen, bevorzugt im
       südbadischen Raum. Außerhalb Stuttgarts haben die städtebaulichen Fragen
       Stuttgarts kaum interessiert. Das Denkmal Bonatzbau und der Park waren den
       meisten Menschen im Land ziemlich egal. Die badische Seite hat wenig
       Neigung verspürt, im schwäbischen Landesteil Geld auszugeben. Den
       Oberschwaben hingegen kann man zutrauen, dass sie nicht für höhere Ausgaben
       in Stuttgart gestimmt haben, sondern für „ihre“ Neubaustrecke. Es ist der
       Fraktion um Ulms OB Ivo Gönner also gelungen, die These zu verbreiten, dass
       die Neubaustrecke von Stuttgart nach Oberschwaben nur kommt, wenn der
       Ausstieg aus Stuttgart 21 abgelehnt wird.
       
       Die dritte Beobachtung: In Stuttgart und im ganzen Land gibt es eine starke
       Korrelation der Ergebnisse mit den Wahlergebnissen der Grünen und der CDU.
       Wo die Grünen stark sind, wie im Talkessel, in Freiburg oder in Tübingen,
       überwiegt die Ablehnung von Stuttgart 21. Wo die CDU stark ist, in den
       Stuttgarter Vororten und auf dem Land, überwiegt die Zustimmung zu
       Stuttgart 21. Wer die CDU am Wahlabend erlebt hat, weiß, dass sie die
       Volksabstimmung als Revanche für die Niederlage bei der Landtagswahl
       begriffen und entsprechend genutzt hat. Dass die waidwunde CDU so hoch
       motiviert für Stuttgart 21 mobilisierte, dazu haben wir mit
       „Lügenpack“-Parolen selbst beigetragen.
       
       Die vierte Beobachtung: Die Ergebnisse in den Kreisen der Region Stuttgart
       sind besonders deutlich für Stuttgart 21 ausgefallen. Man muss zugeben,
       dass schon am Kesselrand der Innenstadt die Mehrheit gegen Stuttgart 21
       endet. Offensichtlich sind die Versprechungen für deutliche Verbesserungen
       im Regionalverkehr auf fruchtbaren Boden gefallen. Und auch in der Region
       waren den Menschen der Schlossgarten, das Mineralwasser und das
       Bahnhofsgebäude nicht so wichtig wie vielen treibenden Kräften des
       Widerstands in der Stadt selbst.
       
       Und ich fürchte, es kommt noch etwas hinzu: Die teilweise mythische
       Überhöhung des Widerstands hat viele Menschen abgeschreckt. Ganz sicher
       kann man das von Demonstrationen sagen, die durch Blockaden von
       Hauptverkehrsstraßen den Verkehr in der Innenstadt zum Erliegen gebracht
       haben. So manches Nein war ein Nein zu Staus am Montagabend. Manches
       Gelöbnis und mancher Superlativ zum Denkmal- und Naturschutz hat außerhalb
       der Bewegung Unverständnis erzeugt und zur Niederlage beigetragen. Das gilt
       noch stärker für Unduldsamkeit und verbale Aggression. Die gab es eben auf
       beiden Seiten. Das heißt nun nicht, dass wir unsere Niederlage vollständig
       selbst verschuldet haben. Es heißt schon gar nicht, dass die Grünen in der
       Landesregierung alles richtig gemacht hätten. Sehr wohl zeigt diese Analyse
       aber, dass die Abstimmung im Ergebnis nicht anders geendet hätte, wenn alle
       Kritikpunkte, die aus der Bewegung bis heute unermüdlich vorgetragen
       werden, berücksichtigt worden wären.
       
       ## Reinigende Selbstkritik
       
       Ich greife exemplarisch ein Beispiel heraus: Dem Verkehrsministerium wird
       immer wieder vorgeworfen, es habe keine Studie zur wahren
       Leistungsfähigkeit des Kopfbahnhofs beauftragt und damit die Abstimmung
       fast schon verloren gegeben. Wenn meine Analyse zutrifft, hätte diese
       Studie aber die Neinsager überhaupt nicht beeinflusst, weil die
       Leistungsfähigkeit des Bahnhofs sie einfach nicht interessiert hat. Wenn es
       einen Zeitpunkt gab, zu dem die Debatte über die Leistungsfähigkeit eine
       Rolle gespielt hat, dann waren es die Minuten vor dem Schlichterspruch. Und
       da war es mein Fehler, nicht die reale Leistung des Kopfbahnhofs, sondern
       die Fahrplanleistung 2010 zum Maß aller Dinge gemacht zu haben.
       
       Nun ist Selbstkritik immer hart. Sie hat aber auch etwas Reinigendes. Aus
       der Katharsis kann man neue Kraft schöpfen. Das unterscheidet sie von der
       Konstruktion von Verratsvorwürfen. Erschreckend finde ich, dass
       mittlerweile auch Unwahrheiten der Pro-Seite von der Bewegung bereitwillig
       weiter verbreitet werden, um die Grünen zu Schuldigen zu machen. Dazu
       gehört zum Beispiel die unwahre Behauptung, die Grünen hätten im Bundestag
       oder dem Aufsichtsrat der Bahn dem Projekt Stuttgart 21 zugestimmt. Der
       Stuttgarter Oberbürgermeisterwahlkampf naht bereits.
       
       Auch wenn es stimmt, dass nicht alle grünen Abgeordneten Stuttgart 21 für
       das Zentrum des Regierungshandelns halten (womöglich zu Recht), kann ich
       für den Ministerpräsidenten und den Verkehrsminister die Hand ins Feuer
       legen. Ich war von den Koalitionsverhandlungen bis zum Nachmittag der
       Abstimmung in alle wesentlichen Strategiebesprechungen eingebunden und habe
       viele Telefonate geführt. Winfried Kretschmann und Winfried Hermann haben
       das Versprechen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um das Projekt zu
       beenden, eingelöst. Sie mussten aber feststellen, dass diese Macht begrenzt
       ist. Und ehrlich gesagt: Darüber sollten wir froh sein, denn das ist
       Demokratie.
       
       „Doch halt! Diese Abstimmung war eine Farce“, schallt es mir immer lauter
       entgegen. Warum durfte nicht Stuttgart selbst über seine Innenstadt
       abstimmen? Wie sollte man das Zustimmungsquorum überhaupt erreichen? Das
       sind berechtigte Fragen, doch sind auch diese durch das Ergebnis der
       Abstimmung beantwortet. Wenn eine Mehrheit im Land oder wenigstens in der
       Stadt gegen das Projekt gestimmt hätte, ließe sich darüber trefflich
       streiten. Ich habe trotz heftiger Kritik vor der Abstimmung immer die
       Auffassung vertreten, das Projekt werde in sich zusammenfallen, wenn die
       Mehrheit des Volkes ihm die Zustimmung entzieht, völlig egal ob das Quorum
       erreicht wird oder nicht. Ich bin auch weiter überzeugt: so wäre es
       gekommen. Ist es aber nicht. Und deshalb ist die Quorumsfrage erledigt.
       Gleiches gilt für die Abstimmung in Stuttgart. Hier wie da war eine
       Mehrheit für Stuttgart 21.
       
       „Stimmt doch nicht, das Projekt stand doch gar nicht zur Abstimmung. Es
       ging doch nur um die finanzielle Beteiligung des Landes!“ Ja, aber das war
       eben die einzig rechtlich zulässige Fragestellung für einen Volksentscheid.
       Der Volksabstimmungswahlkampf wurde von beiden Seiten mit allen verfügbaren
       Argumenten und Aspekten bestritten. Alle wussten – und wir wollten –, dass
       Stuttgart 21 nicht gebaut wird, wenn das Land per Volksentscheid aussteigt.
       Nun muss auch umgekehrt gelten, dass es gebaut wird, weil die Mehrheit
       keinen Ausstieg wollte.
       
       ## Kritisieren, was zu kritisieren ist
       
       Die Volksabstimmung verliert ihre Gültigkeit auch nicht dadurch, dass die
       Idee von der SPD geboren wurde, um ihren inneren Frieden vor der Wahl zu
       finden, und von der Koalition nur übernommen wurde, um überhaupt eine
       Regierung bilden zu können. Die Beteiligung war so groß, besonders in
       Stuttgart, dass man das Ergebnis akzeptieren muss. Wenn die unterlegene
       Minderheit in der Demokratie nicht akzeptiert, was die Mehrheit entschieden
       hat, bricht unser Gesellschaftsvertrag auseinander. Und das sind mir selbst
       der Bahnhof, der Park und das Mineralwasser nicht wert. Deshalb erwarte ich
       von meiner Regierung und den Grünen, dass sie kritisieren, was zu
       kritisieren ist, aber das Projekt jetzt gegen meinen Willen und gegen alle
       Argumente umsetzen.
       
       Stuttgart 21 kann politisch nicht mehr gestoppt werden. Aber das Projekt
       kann sehr wohl an seinen eigenen Mängeln scheitern. Planungsfehler und
       Kostenexplosionen werden immer offensichtlicher. Das hilft dem Südflügel
       nicht mehr. Und auch nicht den Bäumen im Park. Diese traurige Realität muss
       man hinnehmen, nicht still, aber friedlich. Für den Bahnverkehr besteht
       aber noch immer Hoffnung. Die beginnende Debatte um die Streckenführung am
       Flughafen Stuttgart im „Filderdialog“ zeigt, dass zumindest die teure
       Zerstörung der Leistungsfähigkeit des Bahnknotens Stuttgart nicht zwingend
       Realität werden muss. Das ist für alle, die den Bahnhof und den Park
       schützen wollten, kein Trost. Aber ein guter Grund, den Kopf weiter oben zu
       behalten.
       
       23 May 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Boris Palmer
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Genossen machen die taz
       
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