# taz.de -- Zwei-Drittel-Mehrheit für Fiskalpakt: Traute Dreisamkeit bei Euro-Rettung
       
       > Erst spät in die Nacht stimmte eine Zwei-Drittel-Mehrheit des Bundestags
       > für Fiskalpakt und ESM. Dabei verfehlte die Koalition eine eigene
       > Mehrheit. Ein Schock.
       
 (IMG) Bild: Nein, das sind keine Mülleimer: Wahlurnen im Bundestag.
       
       BERLIN taz | Manchmal sagt eine Szene im Bundestag viel mehr als alle
       Reden, die vorher gehalten wurden. Es ist spät am Freitag abend, im
       Plenarsaal herrscht das übliche Gewühl einer namentlichen Abstimmung. Die
       Abgeordneten drängeln sich um die Wahlurnen, stecken ihre Chips hinein. Und
       wer abgestimmt hat, schlendert durch den Saal, plaudert mit Kollegen.
       
       Auch die Kanzlerin tut dies in solchen Momenten, doch wählt sie ihre
       Gesprächspartner selten zufällig. Also stellt sich Angela Merkel zu Sigmar
       Gabriel und Jürgen Trittin. Sie scherzt, redet minutenlang mit dem
       SPD-Vorsitzenden und dem Grünen-Fraktionschef. Die Fotografen auf der
       Pressetribüne richten ihre Teleobjektive aus. Ein schöneres Bild kann es an
       diesem historischen Tag nicht geben: Traute Dreisamkeit, schließlich hat
       die Koalition gemeinsam mit SPD und Grünen zwei europäische Großprojekte
       angeschoben.
       
       Dabei sah dieser historische Tag einen parlamentarischen Marathon vor: Die
       Abgeordneten hatten über den so genannten Fiskalpakt zu entscheiden. Ein
       umfangreiches Sparpaket, das Schuldenbremsen in den EU-Staaten installiert.
       Außerdem ratifizierten sie den dauerhaften Rettungsfonds ESM, dieser
       milliardenschwere Schirm soll verschuldeten Staaten helfen. Und kurz
       nachdem Merkel, Gabriel und Trittin zu Ende geplauscht hatten, stand das
       Ergebnis fest. Der Bundestag beschloss beides – jeweils mit der nötigen
       Zwei-Drittel-Mehrheit.
       
       Zuvor kam es jedoch zu einem dreistündigen Rededuell – und zu einigen
       Überraschungen. Merkel hielt eine für ihre Verhältnisse leidenschaftliche
       Rede. Der Bundestag sende mit einem Ja ein „Signal der Geschlossenheit und
       Entschlossenheit nach innen und nach außen“, sagte sie. Ein Signal, „dass
       Europa unsere Zukunft bedeutet“. Erneut machte sie deutlich, warum ihr die
       parallele Verabschiedung beider Projekte so am Herzen lag. Zwischen
       Fiskalpakt und ESM gebe es eine rechtliche Verknüpfung, betonte sie,
       „zwischen Solidarität und Solidität“. Die Abgeordneten von Union und FDP
       klatschten laut und lang, dieser Zusammenhang ist ihnen wichtig.
       
       Merkel hatte dabei natürlich auch ein taktisches Motiv. Indem sie das
       Sparen mit dem milliardenschweren Retten auf der Tagesordnung verband,
       wollte sie die Zweifler in den eigenen Reihen beruhigen. Dieser Plan schlug
       fehl. Die Listen der namentlichen Abstimmungen, die die
       Bundestagsverwaltung am späten Abend bekannt gab, offenbarten ein für
       Merkel höchst unangenehmes Ergebnis.
       
       26 Abgeordnete aus Union und FDP stimmten mit Nein, mehr als bei allen
       anderen Abstimmungen zu Europa, die bisher stattfanden. Damit verfehlte die
       Koalition eine eigene Mehrheit. Ein Schock. Die Verweigerung hatte zwar
       keine reale Folgen, da durch die Stimmen von SPD und Grünen sogar die
       Zwei-Drittel-Marke geschafft wurde. Aber machtpolitisch produziert sie
       schweren Schaden. Merkel muss realisieren: Die Geduld ihrer eigenen Leute,
       immer neues Steuergeld für andere Staaten aufzuwenden, ist erschöpft.
       
       SPD und Grüne mühten sich, trotz der grundsätzlichen Übereinstimmung in der
       Sache, die Differenzen zu markieren. SPD-Chef Gabriel lobte in seiner Rede
       die Wachstumsbeschlüsse, die der am Freitag ebenfalls zu Ende gegangene
       EU-Gipfel ergeben hatte. Und hob hervor, dass nur der Druck von SPD und
       Grünen dazu geführt hätten. Gleichzeitig kritisierte er das „dilettantische
       Regierungshandwerk“ von Merkel, weil der Start des ESM wegen
       verfassungsrechtlicher Bedenken verschoben werden muss.
       
       Trittin warf Merkel vor, sie habe durch ihr zögerliches Vorgehen zu der
       Euro-Vertrauenskrise beigetragen. In einer schneidenden Rede mahnte er,
       „nicht ständig neue rote Linien zu malen“, die dann doch wenig später
       überschritten würden. Wenn man dauerhaft hohe Zinskosten in Europa mindern
       wolle, müsse man zu einem gemeinsam organisierten Schuldenabbau kommen.
       
       Gegen solche Ideen sperrte sich Merkel in den Verhandlungen mit der
       Koalition bis zuletzt. SPD und Grüne erhandelten für ihr Ja zum Fiskalpakt
       zwar den stärkeren Einsatz für eine Finanztransaktionssteuer und
       Wachstumsprogramme, doch eine Vergemeinschaftung von Schulden lehnt Merkel
       strikt ab.
       
       Die Linkspartei stimmte geschlossen gegen beide Projekte. Für ihre Fraktion
       redete Vize-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht. Sie bezeichnete ESM und
       Fiskalpakt als „Knebelverträge, mit denen Sozialstaat und Demokratie
       endgültig zu Grabe getragen werden“. Die Linke kündigte – neben anderen
       Klägergruppen – den Gang nach Karlsruhe an. Das Verfassungsgericht hatte
       Bundespräsident Joachim Gauck bereits gebeten, das jetzt ratifizierte
       Gesetz noch nicht zu unterschreiben. Die Richter brauchen Zeit für die
       Prüfung der angekündigten Klagen.
       
       Positiv fiel auf, dass die Fraktionen ihren Abweichlern Rederecht
       einräumten. Mehrere durften ihre Bedenken formulieren, statt nur
       persönliche Erklärungen zu Protokoll zu geben. Der CSU-Abgeordnete Peter
       Gauweiler begründete leidenschaftlich seine Bedenken. Er redete sich in
       Rage, musste zwischendurch schlucken. Es entstehe das größte
       Haftungsprojekt ohne demokratische Legitimation, sagte er. Der Bundestag
       habe nichts mehr zu sagen, wenn etwa Geld nachgeschossen werden müsse. „Das
       sind Entscheidungen, die hier nicht mehr getroffen werden müssen,
       haushaltsrelevante Entscheidungen.“
       
       Der Bundestagsdebatte, die um 17.30 Uhr begann, waren turbulente Stunden
       vorangegangen. Schuld waren die überraschend weit gehenden Zugeständnisse,
       die Merkel in Brüssel machen musste. Was sie dort auf Druck von Italien und
       Spanien unterschrieb, geht nämlich weit über die zur Abstimmung stehenden
       Befugnisse des ESM hinaus. Er soll, beschlossen die Staatschefs, künftig
       Banken mit frischem Geld versorgen dürfen.
       
       In der Fassung, die dem Bundestag vorlag, ist dies noch überhaupt nicht
       vorgesehen. Als die Fraktionen am Vormittag die Beschlüsse analysierten,
       machte sich deshalb schnell Empörung breit. Noch während Merkel in Brüssel
       „den intensiven Rat“ lobte, der „eine Menge entschieden“ habe, noch bevor
       sie ins Flugzeug nach Berlin stieg, rebellierte die SPD. Carsten Schneider,
       renommierter Haushälter der Fraktion, empörte sich über angeblich
       gelockerte Regeln für den Geldfonds ESM. Alle Auflagen für ein Land mache
       der Beschluss zum „Papiertiger“.
       
       Die FDP – der die weitgehenden Gipfelbeschlüsse programmatisch nicht passen
       – verbündet sich prompt mit dem Sozialdemokraten, der liberale Abgeordnete
       Jürgen Koppelin plädierte öffentlich für die Verschiebung des ESM.
       Verkehrte Welt – ein paar Stunden lang wollen Union und Grüne über den ESM
       abstimmen, SPD und FDP nicht. Nach Schneiders Protest wurde es hektisch.
       Die SPD beantragte eine Sondersitzung des Haushaltsausschusses, Punkt 13.30
       Uhr trafen sich die Haushälter aller Fraktionen, Finanzminister Wolfgang
       Schäuble (CDU) erläuterte seine Sicht.
       
       Währenddessen flog Merkel von Brüssel nach Berlin, um pünktlich an der
       geplanten Plenarsitzung teilzunehmen. Erst am Nachmittag einigten die
       Fraktionsgeschäftsführer. Auch der Beschluss über den ESM bleibt auf der
       Tagesordnung. Doch an einem ließ Merkel keine Zweifel: Die weitergehenden
       Entscheidungen der Staatschefs, die auch den ESM betreffen, müssen erneut
       vom Bundestag beschlossen werden.
       
       Und Norbert Lammert erntete eher resignierte Lacher, als er am Ende
       Abgeordneten riet, im Urlaub „nicht zu weit hinaus zu schwimmen und
       Handgepäck mitzunehmen“. Dass schon bald eine neue Sondersitzung zur
       europäischen Krise nötig sein könnte, daran zweifeln im Bundestag nur noch
       die wenigsten.
       
       30 Jun 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrich Schulte
       
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