# taz.de -- Machtkampf um Arktis: Wem gehört das Eis?
       
       > Bei der Suche nach den Schiffswracks der legendären Franklin-Expedition
       > helfen ortsansässige Inuit. Es geht auch um die Frage, wer Anspruch auf
       > die Arktis hat.
       
 (IMG) Bild: Wem gehört die Arktis? Ein Inuitjunge in Gjoa Haven.
       
       GJOA HAVEN taz | In der Arktis ist der Sommer angebrochen. Es ist Mitte
       August, das Meer in der Bucht von Gjoa Haven spiegelglatt. Nur einige
       Eisschollen dümpeln am Ufer und leuchten im gleißenden Licht. Ein paar
       Kinder spielen am Strand, Jugendliche lärmen mit ihren Quads durch das
       Dorf. An einer staubigen Straße stehen einige windschiefe Holzhäuser
       aneinandergereiht. Manche der Bewohner haben in ihren Gärten Karibufelle
       zum Trocknen aufgehängt.
       
       Louie Kamookak betritt ein buntes Holzhäuschen am Hafen. Im Büro der
       Gemeindeverwaltung zeigt er auf eine Seekarte an der Wand. „Meine Vorfahren
       und ihre Vorfahren waren sich einig, dass die Schiffe irgendwo hier liegen
       müssen.“
       
       Irgendwo hier in den Tiefen des Eismeers, etwa 2.000 Kilometer vom Nordpol
       entfernt. Vor der Küste der King-William-Insel in der Arktis, die im Sommer
       nicht viel mehr ist als eine Wüste aus Fels und Gestein. Nahe dem kleinen
       kanadischen Inuitdorf Gjoa Haven, in dem gerade einmal 1.500 Menschen leben
       (eine Karte der Gegend finden Sie [1][hier]).
       
       Kamookak ist ein Inuk, so nennen sich die Eskimos selbst. Der 52-Jährige
       selbst erlernte Historiker ist eine Schlüsselfigur bei der Suche nach den
       zurzeit gefragtesten Schiffswracks der Welt. Seit dem Fund der „Titanic“
       gab es nicht mehr so viel Aufregung wie um die „Erebus“ und die „Terror“.
       Die beiden Segelschiffe waren Teil der legendären Arktis-Expedition des
       britischen Polarforschers Sir John Franklin.
       
       ## Legendäre Expedition
       
       Der erfahrene Kapitän war im Jahr 1845 mit 129 Mann aufgebrochen, um als
       erster Europäer die Nordwestpassage zu finden, jenen über 5.000 Kilometer
       langen arktischen Seeweg, der den Atlantik mit dem Pazifik verbindet.
       Franklin hatte die verstärkten Schiffe mit mächtigen Dampfturbinen
       ausstatten lassen, verfügte über Proviant für mehrere Jahre – und die
       besten Seeleute der Welt. Doch schon bald verlor sich seine Spur im ewigen
       Eis. Es ist bis heute die größte Katastrophe der arktischen Seefahrt.
       
       Mehr als 160 Jahre später setzt die kanadische Regierung alles daran, die
       Wracks endlich zu finden. Diesen Sommer suchen Taucher,
       Unterwasserarchäologen und Meteorologen sechs Wochen lang den Meeresboden
       in der Nordwestpassage ab. An Bord des kanadischen Eisbrechers „Sir
       Wilfried Laurier“ und des Forschungsschiffes „Martin Bergmann“ befinden
       sich modernste Geräte wie Sonar, Unterwasserkameras, Satellitenbilder und
       ferngesteuerte Messboote. Etwa 10.000 Dollar bezahlt die Regierung für den
       Einsatz – am Tag.
       
       Die verschollenen Franklin-Schiffe stehen seit einigen Jahren unter
       Denkmalschutz, auch wenn man ihren genauen Aufenthaltsort nicht kennt. Bei
       der Suchaktion geht es nämlich nicht nur um historische Neugierde oder
       Nostalgie. Die „Erebus“ und „Terror“ waren und sind Schiffe Ihrer Majestät,
       der Königin von England, die zugleich auch Königin von Kanada ist. Werden
       die Wracks geortet, untermauert das die Besitzansprüche Kanadas auf die
       Arktis. In einem Vertrag haben die beiden Länder vereinbart, dass sie für
       diesen Fall in den Besitz Kanadas übergehen.
       
       ## Hilfe durch die Einheimischen
       
       Bei der Suche kommt es darum auf Männer wie Louie Kamookak an. Seit mehr
       als 20 Jahren sammelt der Inuk die Überlieferungen seines Volkes, denn in
       vielen Familien der Ureinwohner sind die historischen Expeditionsschiffe
       bis heute Gesprächsthema. „Meine Großeltern haben mir schon als Kind
       Geschichten darüber erzählt, die sie wiederum von ihren Großeltern
       kannten“, erinnert sich Kamookak. Die Inuit waren seinerzeit die einzigen
       Zeugen bei Franklins verzweifeltem Versuch, die Schiffe durch das Eismeer
       zu navigieren.
       
       In seinem kleinen Büro am Hafen erzählt Kamookak einige der alten
       Geschichten. Wie seine Vorfahren an den Stränden der King-William-Insel
       unbekannte Gegenstände fanden: Besteck, Glasflaschen, Metalldosen, Nägel
       oder Munition. Mehr als ein Jahrhundert später sollte sich herausstellen,
       dass viele Artefakte von den Franklin-Schiffen stammten. Nach
       übereinstimmenden Berichten älterer Inuit soll es zwischen 1847 und 1848
       sogar Begegnungen der Ureinwohner mit der ums Überleben kämpfenden
       Franklin-Crew gegeben haben.
       
       ## Wo liegt Franklin?
       
       Angeblich hatten die Inuit Teile der im Eis festsitzenden Besatzung sogar
       mit Nahrung versorgt, als Franklins Männer erfolglos versuchten, sich zu
       Fuß in Richtung Süden durchzuschlagen. Während der sommerlichen Karibujagd
       haben die Inuit später unter Steinhaufen Gräber der Seeleute gefunden. Das
       Grab ihres Kapitäns hat man jedoch bislang nicht geortet. Franklin starb
       nach zwei zermürbenden Wintern im Juni 1847 an Bord der im Eis
       festsitzenden „Erebus“ – vermutlich an Kälte und Skorbut. Darauf lässt eine
       Jahre später in der Eiswüste gefundene handschriftliche Notiz eines der
       Besatzungsmitglieder schließen.
       
       Die Informationen der Inuit seien wie ein Puzzle, das man jetzt
       zusammensetzen müsse, sagt Ryan Harris von der kanadischen
       Nationalparkbehörde, die mit der Suche der Wracks betraut worden ist. Aus
       den Überlieferungen ließe sich ableiten, dass eines der Schiffe vermutlich
       vom Eis zerquetscht wurde und Teile dessen von den Inuit als Brennholz
       verwendet worden seien.
       
       Von diesem Schiff dürften sich nicht viel mehr als einige Bruchstücke
       finden lassen. Das zweite Schiff aber soll noch einige Jahre mit dem
       Treibeis gedriftet und schließlich als ganzes gesunken sein. Auf dieses
       Schiff setzen die Forscher ihre Hoffnung: Sie konzentrieren ihre Suche
       diesmal auf ein etwa 1.500 Quadratkilometer großes Gebiet um die
       King-William-Insel.
       
       Mehr als 20 Crews haben in den letzten Jahrzehnten bereits nach den Wracks
       gesucht, für die Kanadier ist es der vierte Versuch in fünf Jahren. Wie
       wichtig der Regierung die Sache ist, zeigt sich daran, dass parallel zur
       Wracksuche das alljährliche Militärmanöver Kanadas in der Arktis
       stattfindet. Im Rahmen der „Operation Eisbär“ üben 1.000 Soldaten den
       polaren Einsatz mit Kampfjets, Transportflugzeugen und Eisbrechern.
       
       ## Rivalität ums ewige Eis
       
       Seit das Meereseis immer schneller schmilzt, rivalisieren mehrere Nationen
       um das Polargebiet. Angeblich lagern in der Arktis bis zu 30 Prozent der
       bislang unentdeckten Gasreserven der Welt, dazu Rohöl, viele Rohstoffe und
       Edelmetalle. Kanada betrachtet die Nordwestpassage als nationales Gewässer,
       die USA und viele andere Nationen dagegen als internationale
       Schifffahrtsroute.
       
       Die Amerikaner unterqueren die Passage regelmäßig mit ihren Atom-U-Booten.
       Jedes noch so kleine Wrackteil, aus dem sich Ansprüche ableiten lassen, ist
       den Kanadiern daher willkommen. Internationale Rechtsexperten bezweifeln
       zwar die Gültigkeit ihres Anspruchs. Dennoch stecken sie dieses Jahr knapp
       300.000 Dollar in die Suche.
       
       In Gjoa Haven hoffen auch die Bewohner auf einen Erfolg der Suche.
       „Uqsuqtuqq“ heißt die Gemeinde in der Sprache der Inuit, frei übersetzt ist
       das „der Ort mit den Mengen von Speck“. Der Name geht zurück auf die
       üppigen Robbenherden, die gewöhnlich die Gewässer östlich der
       King-William-Insel bevölkern. Außer den Robben allerdings gibt es in Gjoa
       Haven nur wenig im Überfluss. Die meisten Ureinwohner leben noch immer von
       der Fischerei, der Jagd – oder der Sozialhilfe. Das Kilo Tomaten im
       Northern Store kostet umgerechnet 12, eine Tüte Eis 10 Euro.
       
       ## Hohe Selbstmordquote
       
       Leo Uttaq sitzt vor seinem roten Holzhäuschen an der Hauptstraße und
       schnitzt mit Feilen an einem Walross aus Speckstein. „In ein bis zwei Tagen
       bin ich fertig“, erklärt der Familienvater stolz. 150 Dollar hofft er für
       das Kunstwerk zu erhalten, wenn im Sommer die wenigen Besucher im Ort
       anlanden. Zwei bis drei Expeditions- oder Kreuzfahrtschiffe ankern während
       ihrer Fahrt durch die Nordwestpassage jedes Jahr in der Bucht. Sie bleiben
       nur ein paar Stunden.
       
       Für Menschen wie Leo Uttaq aber sind sie ein wichtiges Zubrot. Denn wie in
       vielen Gemeinden in der kanadischen Arktis sind auch in Gjoa Haven die
       sozialen Probleme groß: hohe Arbeitslosigkeit, zu wenig Wohnraum, akute
       Kriminalität und eine Selbstmordrate weit über dem kanadischen
       Durchschnitt. Noch in den 1950er Jahren lebten viele Inuit-Familien in
       Iglus oder Camps auf dem Land. Viele haben die rasante Reise in die Neuzeit
       nur schlecht verkraftet.
       
       Am Abend haben sich Leo Uttaq, Louie Kamookak und die anderen Bewohner zu
       einem Dorffest versammelt. Vor der Sportarena aus grauem Wellblech parken
       Dutzende Geländefahrzeuge. Drinnen tanzen Jung wie Alt in fein bestickten
       Kostümen und Schuhen aus Robbenfell zu traditioneller Musik.
       
       Alte Männer geben auf Trommeln den Rhythmus vor, zwei Mädchen üben
       Kehlkopflieder, bei denen sie die Laute von Seelöwen imitieren. Unter den
       Zuschauern sind auch die fünf Kinder und vier Enkel von Louie Kamookak.
       „Ihretwegen wünsche ich mir, dass wir die Franklin-Schiffe finden“, erklärt
       er. „Die Wracks würden uns viele Besucher und Wohlstand bringen.“
       
       29 Aug 2012
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /fileadmin/static/pdf/2012-08-28_grafik-passage.pdf
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jörg Michel
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Morrissey
       
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