# taz.de -- Im ewigen Eis: Das Arktis-ABC
       
       > Es ist kalt. Sehr kalt. Zum Zähneklappern vor dem heimatlichen Ofen gibt
       > es deshalb ein lexikalisches Lesevergnügen aus einer wirklichen frostigen
       > Gegend - der Arktis.
       
 (IMG) Bild: Der braucht keinen Arktis-Crashkurs mehr...
       
       Anorak. In der Sprache der Inuit wörtlich "Etwas gegen den Wind". Deren aus
       Robbenhaut genähte Jacken mit fellgesäumter Kapuze waren Vorbild der
       wetterfesten Synthetik-Anoraks abenteuersehnsüchtiger Großstädter.
       
       Blei. Etliche Teilnehmer der tragisch-berühmten Franklin-Expedition starben
       daran: 1845 wollte Sir John Franklin, Brite und Gouverneur Tasmaniens, die
       Nordwestpassage durchqueren. Als Proviant für seine Mannschaft nahm er
       Konservendosen mit, die mit Blei verlötet waren. Leider verdarben die
       Lebensmittel trotzdem. Und nicht nur das: Das Blei verursachte bei den
       Männern Seh- und Bewusstseinsstörungen und die gesamte Expedition verscholl
       im Eis.
       
       Courage. Geistige Grundvoraussetzung eines Arktisreisenden. Wie sonst will
       er dem ohrenbetäubenden Kreischen auseinanderbrechender Packeisschollen,
       den Attacken hungriger Eisbären oder angriffslustiger Walrösser und der
       Depression, ausgelöst durch die monatelange Polarnacht, entgegentreten?
       
       Drei Schachteln Streichhölzer. Sollen der Lohn gewesen sein, den der Inuit
       Itukusuk erhielt, nachdem er den Brooklyner Schiffsarzt und Abenteurer
       Frederick Albert Cook im Jahr 1908 auf seiner Expedition zum Nordpol
       begleitete. Itukusuk behauptete später, dass Cook den Nordpol nie erreicht
       habe, und untermauerte damit die Beschuldigungen derer, die ihn als
       Scharlatan zu entlarven versuchten.
       
       Eigentum. Wem gehört die Arktis? Durch die Polschmelze rücken die begehrten
       Rohstoffe der Arktis in greifbare Nähe - dadurch ist in den letzten Jahren
       ein Eigentumsstreit entbrannt. Kanada, Dänemark, die USA, Russland und
       Norwegen stellen Gebietsansprüche.
       
       Flaggen. Unzählige wurden in der Geschichte der Polarforschung gehisst.
       Zwei Flaggengeschichten: Am 27. Juni 1914 fror Walerian Albanow, erster
       Offizier, mit seinem Schoner im Eis fest. Er wanderte zu Fuß über das
       Packeis, und als er eine kahle Felsinsel erreichte, fand er dort - neben
       einer leeren Bierflasche - eine britische Flagge. Im Sommer 2007 tauchte
       die Besatzung des russischen Forschungsschiffes Akademik Fjodorow mit dem
       U-Boot "Mir" 4.261 Meter auf den Meeresgrund und stellte eine Fahne aus
       rostfreiem Titan unter dem Nordpol auf.
       
       Gletscher. Dort lebt ein millimeterkleines, blindes Urinsekt: der
       Gletscherfloh. Außerdem sind Gletscher die Eltern der Eisberge. "Kalben"
       nennt man es, wenn von einem Gletscher ein Stück abbricht und als Eisberg
       aufs Meer treibt. Eine ganze Wissenschaft beschäftigt sich mit Gletschern:
       die Glaziologie.
       
       Homosexualität. Der österreichische Schriftsteller Christoph Ransmayr
       schreibt in seinem Roman "Die Schrecken des Eises und der Finsternis" über
       eine österreichisch-ungarische Nordpolexpedition: "Reden sie viel über
       Frauen? Oder haben sie manchmal das Verlangen, sich aneinander zu lehnen,
       einander in die Arme zu nehmen?"
       
       Inzest. Um diesen zu vermeiden, veranstalteten die Schamanen der Inuit
       sogenannte Lampenspiele. Begegneten sich mehrere Sippen oder trafen fremde
       Jäger auf einen Inuit-Clan, versammelte der Schamane Männer und Frauen im
       Gemeinschaftshaus und löschte das Licht. Kinder, die aus den Begegnungen im
       Dunkeln hervorgingen, wurden von den Ehemännern als eigene angenommen.
       
       Jux. An Karneval flößten die Mitglieder der
       österreichisch-ungarischen-Nordpolexpedition einem Schlittenhund Alkohol
       ein und verkleideten ihn als Lindwurm. Die italienischen Matrosen spielten
       in düsteren Polarnächten auf dem mit Fackeln beleuchteten Eis Boccia.
       
       Krill. Ist Alt-Norwegisch und bedeutet "Nahrung der Wale". Krill ist
       tierisches Plankton aus kleinen Leucht- und Ruderfußkrebsen. Die Tierchen
       bilden derart dichte Schwärme, dass eine Badewanne etwa 60.000 Tiere fassen
       würde. Krill hat einen hohen Protein-, Vitamin- und Mineralgehalt. Der
       Finnwal verspeist etwa bis zu drei Tonnen täglich. Auch kleinere Fische
       ernähren sich vom Krill.
       
       Lemminge. Sind keine Selbstmordsekte. Die Nagetiere leben in der arktischen
       Tundra und vermehren sich bei reicher Nahrungsvorkommen explosionsartig.
       Haben sie alles aufgefressen, geht die Sippe auf Wanderung. Wenn Flüsse
       oder gefährliche Felsspalten zu überwinden sind, minimiert sich der Bestand
       auf natürliche Weise. Die Selbstmordlegende der Lemminge wurde durch einen
       Disney-Dokumentarfilm von 1958 mitbegründet. In "White Wilderness" wird der
       Gruppenselbstmord einer Schar Lemminge nachgestellt: Aufnahmen einer
       steilen Klippe sind gegengeschnitten mit Lemmingen, die einen Geröllhang
       heruntergeworfen werden. Die Lemminge wurden extra von Inuit-Kindern
       gefangen.
       
       Magnetischer Nordpol. Dorthin zeigt die Kompassnadel, nicht identisch mit
       dem geografischen Nordpol. Entdeckt wurde er im Jahre 1831 von dem
       britischen Polarforscher Sir John Ross und seinem Neffen James Clarke Ross.
       Damals lag er bei 70,1(o) nördlicher Breite und 98,6(o) westlicher Länge,
       nahe Kap Adelaide bei Kanada. J. C. Ross errichtete mit dem Steuermann
       Blanky eine Pyramide aus Kalkstein und vergrub ihre Forschungsergebnisse in
       einem Kanister darunter. Der magnetische Nordpol wandert jährlich mehrere
       Kilometer nach Norden.
       
       Nordwestpassage. Mitten durchs Polarmeer führt dieser Seeweg nördlich von
       Amerika vom atlantischen in den pazifischen Ozean. Über 400 Jahre suchten
       Seefahrer nach der Route, scheiterten aber immer wieder am Packeis.
       Entdeckt wurde die Nordwestpassage auf der Suche nach der verschollenen
       Franklin-Expedition. Die erste Durchfahrt gelang Roald Amundsen 1906. Er
       brauchte fast drei Jahre, da er mehrmals mit seinen Schiffen festfror.
       Heute braucht ein Eisbrecher etwa 12 Tage für die 5.780 Kilometer - auch
       Touristen können die Route befahren. Im Sommer 2007 war die Passage zum
       ersten Mal eisfrei.
       
       Öl. Ein Viertel der globalen Erdöl- und Erdgasvorräte soll unter dem
       arktischen Ozean liegen. Außerdem werden dort Eisenerz, Nickel, Zink,
       Kohle, Uran, Zinn, Diamanten und Gold vermutet.
       
       Polarlicht. Grüne, rote, violette und blaue Lichterscheinungen im Himmel
       über der Polarregion wurden von Wikingern als Nachhall großer Schlachten
       und von Gottesfürchtigen im Mittelalter als Vorboten von Unglück und Pest
       oder als Zeichen aus der Totenwelt betrachtet.
       
       Quinn, der Eskimo. Nachdem Bob Dylan den Film "The Savage Innocents"
       gesehen hatte, schrieb er dem Mann einen Song, der darin den Eskimo spielte
       - Anthony Quinn: "Come all without, come all within / Youll see nothing but
       the mighty Quinn".
       
       Rentier. Der dänische Inuitforscher Knud Rasmusssen beschreibt in den
       1920ern folgendes Mahl: "Als Vorspeise gibt es eine Bouillon aus abgenagten
       Knochen und Rentierhufen, zwischen denen bisweilen noch Reste von
       Exkrementen kleben. Der Hauptgang ist Rentierfleisch, das von den
       Speisenden mit bloßen Händen von den Knochen des Tieres gerissen wird. Als
       Dessert werden fette, rohe Larven von Rentierbremsen gereicht, die aus dem
       Fell der frisch geschossenen Tiere herausgekratzt worden sind. Beißt man in
       sie hinein, gibt es einen kleinen Knacks."
       
       Skorbut. Erst im 18. Jahrhundert kam man dahinter, dass Vitamin-C-Mangel
       Auslöser der Krankheit ist. Skorbut äußert sich durch Zahnausfall und eine
       großen Mattheit, die zum Tod führen kann. Auch Wunden verheilen bei Skorbut
       nicht. Die Wikinger hatten keine Probleme mit Skorbut, da sie stets
       Zwiebeln an Bord hatten; der Seefahrer James Cook nahm dagegen immer ein
       paar Fässer Sauerkraut mit an Bord.
       
       Tod. Die Inuit unterschieden zwischen drei Todesarten. Erstens: dem Tod
       durch Krankheit, verursacht von böswilligen Geistern. Zweitens: dem Tod auf
       der Jagd. Ein Grund, in Liedern ehrenvoll erwähnt zu werden. Drittens: dem
       freiwilligen Tod zur Erhaltung der Gemeinschaft. Dieser Tod wurde besonders
       verehrt - der durch Erdrosseln oder Erfrieren Verstorbene wurde über
       Generationen in Liedern und Legenden gepriesen.
       
       U-Boot. 1958 wurde das Nordpolarmeer zum ersten Mal unterhalb des Packeises
       durchquert. Die "USS Nautilus" tauchte am 1. August bei Point Barrow vor
       Alaska ab, passierte den geografischen Nordpol und tauchte 96 Stunden und
       1.830 Meilen später bei Grönland wieder auf.
       
       Verschollen. Vor der Teilnahme an einer Expedition unterschrieb man eine
       Erklärung: Sollte das Schiff verloren gehen, werde man auf Rettung
       verzichten.
       
       Wucher. Die Händler tauschten bei den Ureinwohnern der Arktis Felle gegen
       eine unverhältnismäßig niedrige Bezahlung ein. In den Jahren 1769 bis 1868
       schafften die Briten aus der Hudson Bay folgende Ausbeute nach London:
       891.091 Polarfuchsfelle, 1.052051 Luchsfelle, 68.694 Vielfraßfelle, 288.016
       Bärenfelle, 467.549 Wolfspelze, 1.507240 Nerze, 4.708702 Biber- und
       12.40511 Marderfelle.
       
       Xanthippe. Allein Jules Verne erdachte eine Heldin der Polarliteratur und
       beschreibt sie in "Das Land der Pelze" von 1873 als "freilich etwas
       männlich und ihre ganze Erscheinung atmete weniger Liebreiz als moralische
       Kraft". Die Inuit fanden es sonderbar, dass die weißen Männer ohne ihre
       Frauen reisten - für einen Jäger war eine Frau lebensnotwendig, da sie
       seine Kleidung in Stand hielt und die Beute zubereitete.
       
       Yacht. Kommt nicht durchs Eis. Durchbrechen oder drübergleiten
       funktioniert, also Eisbrecher oder Kajak.
       
       Zank. Gibt es um die Entdeckung des Nordpols. Dr. Frederick Cook
       informierte die Welt am 1. September 1909, dass er am 21. April 1908 auf
       dem Nordpol gestanden habe. Ohne davon zu wissen, kabelte der Polarforscher
       Robert Peary eine Woche später von Labrador aus, er hätte am 6. April 1909
       den Nordpol erreicht. Es entbrannte eine hitzige Schlacht in der Presse.
       Heute gelten beide Berichte als umstritten - doch wird in der Regel Peary
       als Entdecker anerkannt.
       
       15 Dec 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Kirsten Reinhardt
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA