# taz.de -- Schlagloch Rassismus: Eine deutsche Nazigroteske
       
       > Haben wir schon wieder 1992? Bei den grotesken Meldungen um den NSU wird
       > klar: Deutschland braucht eine zweite, viel gründlichere
       > Entnazifizierung.
       
 (IMG) Bild: Solidarität mit einem Kippa-Flashmob auf dem Ku'damm: Antisemitismus ist ein alltägliches Problem – nicht nur in Berlin.
       
       Die Geschichte wiederholt sich nicht, sagt man. Mag sein. Aber gewisse
       Dinge wiederholen sich bis zur Ermüdung. Immer wieder, wenn wir von ihnen
       lesen, sind wir entsetzt, doch nicht wirklich überrascht.
       
       Nehmen wir die NSU, zum Beispiel. Als es losging mit der Berichterstattung
       zu Filz und Vertuschung, Versäumnissen und „Pannen“, habe ich beschlossen,
       die Meldungen zu sammeln. Und längst aufgegeben. Sammeln? Unmöglich! Es
       kommt ja alle paar Tage etwas Neues ans Tageslicht. Eins grotesker als das
       andere.
       
       Die Sache mit den 40 V-Leuten im 140-köpfigen „Thüringer Heimatschutz“; der
       Versuch, ausgerechnet Uwe Mundlos für den Geheimdienst anzuwerben; die
       Info, dass es ein V-Mann war, der dem Zwickauer Trio den Sprengstoff
       beschaffte; die Unterschlagung von Dokumenten und das Ignorieren von
       Hinweisen auf den Aufenthalt des Zwickauer Trios. Und das sind nur die
       jüngsten Meldungen – Meldungen, die man gar nicht mehr vernünftig
       kommentieren kann. Meldungen wie ein Treppenwitz.
       
       ## Der Waldschrat plakatiert
       
       In dem Zusammenhang musste ich an Julia Roberts und Denzel Washington in
       dem Film „Die Akte“ denken. Solche Filme sind nur in den USA möglich. Nur
       dem US-amerikanischen Sicherheitsapparat traut der Kinobesucher so viel
       Manipulation zu, dass man darüber Thriller drehen kann. Bei uns, denken
       wir, sei das alles nicht möglich.
       
       Das stimmt natürlich. Bei uns in Deutschland wäre das ganz anders. Wenn man
       die NSU-Katastrophe verfilmen wollte, würde ein von Anfang an
       durchsichtiger und auch kurzer Film daraus. Ein paar Hände, die Geld und
       gelegentlich eine Waffe verschenken; schwarze Stiefel, die marschieren und
       Leute zusammentreten; in der Hauptrolle ein Aktenvernichtungsgerät. Um die
       Sache etwas aufzupeppen, könnte man nebenher einen Subplot laufen lassen:
       Ein bayerischer Waldschrat plakatiert deutsche Großstädte und sucht nach
       einem vermissten, potenziell radikalisierten Ibrahim.
       
       Bei uns würde übrigens auch niemand eine leere Akte in ein Archiv stellen,
       bei uns wird der Pappdeckel gleich mitgeschreddert; allerdings gibt es zum
       Vorgang des Schredderns eine Aktennotiz; diese wird öffentlich abgestritten
       und geht eine Woche später verloren. Bei unseren Behörden hat alles seine
       Richtigkeit.
       
       Man ist versucht, das als Farce abzutun, als schiefgegangene deutsche
       Komödie – dann fällt einem ein: Das ist ja echt. Mindestens zehn Menschen
       sind umgekommen. Der reine Wahnsinn, den teils daneben- und teils gar
       dahinterstehenden Polizei- und Geheimdienstapparat weiterlaufen zu lassen
       und zu glauben, er reformiere sich beim Weiterlaufen von selbst! Wie viele
       Köpfe sind seit der Aufdeckung der NSU-Mordserie bisher (metaphorisch)
       gerollt? Bereits bei der ersten Entnazifizierung hat die BRD geschlampt.
       Eine zweite Entnazifizierung ist überfällig, und die muss klappen!
       
       ## Neuer alter Antiziganismus
       
       Auch der Blick in die Nachbarländer ist niederschmetternd. Was hab ich
       schon alles geschrieben über Islamfeindlichkeit. Ich stehe zu jedem Wort,
       dennoch schäme ich mich – denn es gibt Menschen, die sich schon viel länger
       im Fadenkreuz der Rechten befinden als wir.
       
       Die Roma zum Beispiel. Nicht nur werden sie in Ungarn von einer
       paramilitärischen „Garde“ verfolgt, nein, auch andere europäische Länder
       frönen schamlos dem neuen alten Antiziganismus. Im Juli feierten mehrere
       hundert Roma im Schweizer Kanton Wallis eine Hochzeit. Die Einheimischen
       schäumten. Die Schweizer Presse schrieb über gerechten Volkszorn und
       hinterlassene „Exkremente“. Worüber sie nicht schrieb, waren die Schüsse
       auf Wohnwagen und die Hakenkreuzschmierereien.
       
       Frankreich ließ Ende August mal wieder ein Lager mit mehreren hundert
       Menschen räumen. Auch hier das Stichwort sanitäre Zustände, sprich:
       Exkremente. Das ist ja klar, dass Hunderte von Menschen ohne gemauerten
       Wohnsitz trotzdem regelmäßig Verdauung haben. Kann man nicht einfach Klos
       hinstellen?
       
       Ende August bei Düsseldorf: Eine Gruppe von Sinti und Roma hatte mit 15
       Wohnmobilen das Drittel eines Parkplatzes belegt. Vermutlich drohten wieder
       „Exkremente“ oder gar Wäscheaufhängen, doch gerade noch rechtzeitig rettete
       das Ordnungsamt die Unschuld des Parkplatzes.
       
       Ebenfalls das Ordnungsamt befreite im Juli die hessische Stadt Bad Vilbel
       von einer, laut Bad Vilbeler Neue Presse, „nicht ganz unbekannte[n] Gruppe
       von Personen, die einem Erlass zu Folge weder ’Zigeuner‘ noch ’fahrendes
       Volk‘ noch sonst wie genannt werden darf“, und sich „dort ohne Genehmigung
       wieder einmal vorübergehend breitgemacht“ hatte.
       
       ## „Heil Hitler“ in Wien
       
       In Berlin haben junge Männer Ende August einen Rabbiner in Berlin
       angegriffen, geschlagen, verhöhnt und seine kleine Tochter mit dem Tode
       bedroht. Während die Offiziellen noch beteuern, dass Berlin „eine
       weltoffene Metropole, in der wir Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit und
       Antisemitismus nicht dulden“ (Klaus Wowereit), kommt heraus, dass
       Antisemitismus in Berlin an der Tagesordnung ist.
       
       Zur selben Zeit wurde im Vorfeld eines Fußballspiels ein Rabbiner in Wien
       von einem Fan mit ausgestrecktem Arm und „Heil Hitler“ „begrüßt“. Die
       Polizei stand dicht daneben, und auf die Frage, ob sie ihm nicht beistehen
       könnten, sagte ein Beamter: „Na hörn ’S, heut is Fußball!“ „Mit
       antisemitischen Beschimpfungen auf offener Straße bedacht zu werden gehört
       leider zum Alltag für Wiener Juden“, sagte der Rabbiner nachher. „Dass dies
       jedoch vor den Augen, also in tatsächlicher Präsenz von Polizeibeamten,
       geschieht, war eine Premiere für mich.“
       
       Ich könnte diese Aufzählung ewig so fortführen – von zusammengeschlagenen
       Afrodeutschen, in die Sahara abgeschobenen Flüchtlingen und untergehenden
       Booten im Mittelmeer. Von der unmenschlichen Residenzpflicht, von dem
       Asylbewerberheim in Stuttgart, das Ende August brannte. Haben wir etwa
       schon wieder 1992? Hat der Wiener Rabbiner recht: dass es hier Premieren
       gibt – oder ist es die Wiederkehr des ewig Selben? Ich gestehe, ich habe
       den Überblick verloren.
       
       19 Sep 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Hilal Sezgin
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Rechter Terror
       
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