# taz.de -- Kolumne Knapp überm Boulevard: Weniger Ich
       
       > Die Frage an die Schule muss lauten: Welche Art von Subjekten soll sie am
       > Ende ihrer Tätigkeit der Gesellschaft, dem Leben, übergeben.
       
 (IMG) Bild: Freuen sich schon auf ihre Optimierung: Schulanfänger in Baden-Württemberg.
       
       Bildung ist heute die zentrale Integrationsmaschine. In der langen
       Nachkriegszeit war dies der Wohlfahrtsstaat, der nicht nur
       volkswirtschaftliche Steuerung, sondern auch soziale Integration
       garantierte.
       
       Heute, wo diese Verbindung zunehmend brüchig wird, kommt der Bildung die
       Hauptlast der symbolischen Integration zu. Ob sie dieser (überfordernden)
       Aufgabe tatsächlich durch mehr Kreativität und Autonomie nachkommen kann –
       wie derzeit gefordert wird –, ist allerdings fraglich.
       
       Die grundlegende Frage zur Bildung lautet: Welche Art von Subjekten soll
       erzeugt werden, von welcher Subjektvorstellung lässt man sich leiten? Und
       da muss man eine Verschiebung feststellen: Die „Schule des 21.
       Jahrhunderts“ erzieht nicht mehr vorrangig Citoyens, also Staatsbürger, die
       am Gemeinwesen teilnehmen.
       
       In einer Gesellschaft der verallgemeinerten Konkurrenz haben
       Bildungsinstitutionen ein anderes Subjekt im Blick: das marktkompatible
       Individuum, den Homo oeconomicus. Dieser Homo oeconomicus ist längst nicht
       mehr die Krämerseele des alten Bourgeois. Dieser Homo oeconomicus ist die
       neoliberale Übersetzung von dem, was man früher die gesamte Person – das
       Individuum in seiner ganzen Bandbreite – genannt hat: Er ist das
       Humankapital.
       
       ## Optimiert euch
       
       Der Imperativ des Humankapitals lautet bekanntlich: Optimierung. Und
       Bildung ist die wesentliche Investition in dieses Humankapital. Das ist ja
       alles längst Gemeingut. Ebenso wie die Tatsache, dass der Neoliberalismus
       die wichtigste Ressource des Humankapitals angezapft hat: die Seelenkräfte.
       Diese altmodischen Seelenkräfte sind ja das, was das Subjekt funktionieren
       lässt – genauer gesagt: die Seelenkräfte sind das, was das Subjekt von
       alleine funktionieren lässt.
       
       Für diese Art von Subjektproduktion sind Disziplinarmechanismen gänzlich
       ungeeignet. Deshalb ist die Disziplinierung – das Überwachen, das
       Kontrollieren, das Strafen – zwar nicht verschwunden, aber sie ist längst
       nicht mehr der vorherrschende Betriebsmodus in den Bildungsinstitutionen.
       Mit Disziplinierung alleine produziert man nämlich keine selbstaktiven,
       selbstgesteuerten Subjekte. Dazu braucht es nämlich, genau: Kreativität,
       Eigeninitiative, Autonomie.
       
       Eben dies subvertiert natürlich die alte Vorstellung, dass Bildung
       gleichbedeutend mit Emanzipation ist. Genau jene Attribute des Subjekts,
       die im Dienste der Emanzipation stehen sollten – von Selbstverantwortung
       bis Eigensinn –, haben sich zur Ressource der neoliberalen Subjektivität
       verwandelt. Das ist wie bei einem Judotrick, wo die Kräfte des Gegners
       gegen diesen verkehrt werden.
       
       Eben deshalb müsste eine Bildungsdebatte heute eine ganz neue Frage
       aufwerfen, die Frage: Kann Bildung heute noch Teil einer
       „Verhaltensrevolte“ (nach dem schönen Wort von Michel Foucault), Teil einer
       Veränderung der Verhaltensführung sein? Oder dient sie nur dem Anschluss an
       die große Ich-Maschine der Gesellschaft? Das ist nichts anderes als eine
       zeitgemäße Formulierung der alten Frage, ob Bildung noch emanzipatorisch
       sein kann.
       
       ## Es fehlt der Citoyen
       
       Für diese Aufgabe braucht es in den Bildungsinstitutionen aber nicht
       einfach mehr sogenannte Kreativität und Autonomie. Denn der solcherart
       kreative und autonome Homo oeconomicus ist ohnehin der vorherrschende, der
       tonangebende Subjekttypus. Wir sind alle weit mehr Homo oeconomicus, als
       wir glauben.
       
       Woran es aber mentalitätsmäßig mangelt, ist jener andere Subjekttypus, der
       Citoyen oder das Rechtssubjekt in einer aktualisierten Version. Ein Subjekt
       also, dass nicht nur, kreativ und autonom, über die Verfolgung seiner
       eigenen Interessen funktioniert. Denn heute ist selbst der Raum des
       Politischen von Wirtschaftssubjekten bewohnt.
       
       Bildungsnotwendig wäre es also, nicht mehr Marktkompatibilität zu erzeugen,
       sondern weniger. Unsere Bildungsinstitutionen bedürfen tatsächlich einer
       neuen Zielvorgabe: der Vorstellung eines politischen Subjekts unter
       heutigen Bedingungen. Kurzum – Bildung muss heute nicht Erziehung zu mehr
       Ich, sondern Erziehung zu weniger Ich sein.
       
       24 Sep 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Isolde Charim
       
       ## TAGS
       
 (DIR) NGO
 (DIR) Sido
       
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