# taz.de -- Envio-Prozess platzt nicht: Sechs neue Gutachter geladen
       
       > Der Prozess um die Vergiftung hunderter Arbeiter mit Dioxinen und PCB
       > stand vor dem Aus. Jetzt kommen neue Gutachter ins Spiel.
       
 (IMG) Bild: Zentrale der Trafo-Entsorger: Envio in Dortmund.
       
       DORTMUND taz | Staatsanwalt Marc Sotelsek könnte einem fast leid tun. Hohn
       und Spott ergießen sich im Dortmunder Envio-Prozess über den promovierten
       Juristen.
       
       Eine „komplette Rolle rückwärts“ habe Sotelsek bei der juristischen
       Aufarbeitung eines der größten deutschen Umweltskandale hingelegt,
       kritisiert der Vertreter der Nebenklage, der renommierte Kölner Anwalt
       Reinhard Birkenstock, der schon Wettermoderator Jörg Kachelmann vertreten
       hat – und bekommt Unterstützung selbst von Verteidiger Ralf Neuhaus.
       
       Denn obwohl in Dortmund bereits seit Mai verhandelt wird, hat die
       Staatsanwaltschaft erst am Dienstag die Anhörung von gleich sechs neuen
       Gutachtern beantragt, die dem Gericht bei der Beantwortung einer Frage
       helfen sollen: Ist die Verseuchung hunderter Arbeiter mit hochgradig
       gesundheitsschädigenden, potenziell krebserregenden Polychlorierten
       Biphenylen (PCB) und Dioxinen durch Dortmunder Firma Envio, überhaupt
       Körperverletzung?
       
       Zwar herrschten in der Firma des Hauptangeklagten Dirk Neupert
       frühkapitalistische Arbeitsbedingungen. Ohne jede Schutzkleidung zerlegten
       mies bezahlte Leiharbeiter Transformatoren und Kondensatoren. Die waren
       hochgradig kontaminiert: Schon heute beobachtet Thomas Kraus, Leiter des
       Instituts für Arbeits- und Sozialmedizin der TH Aachen, „Störungen des
       zentralen Nervensystems“, „Beeinträchtigungen des Hormonhaushalts“,
       „Erkrankungen der Schilddrüse“ und akneähnliche Hautveränderungen bei den
       von ihm betreuten Arbeitern - schließlich PCB zum weltweit geächteten
       „Dreckigen Dutzend“ besonders gefährlicher Chemikalien. Für Neupert dagegen
       war die Zerlegung der Trafos angesichts hoher Schrottpreise nur eins: ein
       gutes Geschäft.
       
       ## Zurückhaltende Anklage
       
       Trotzdem hielt sich die Dortmunder Staatsanwaltschaft in ihrer Anklage
       gegen Neupert auffallend zurück: Der 47-Jährige steht nicht wegen
       gefährlicher, sondern nur wegen einfacher Körperverletzung und
       Umweltdelikten wie dem „unerlaubten Umgang mit gefährlichen Stoffen“ vor
       Gericht. Auch Mitarbeiter Bezirksregierung Arnsberg, die Envio überwachen
       sollten, stattdessen aber immer wieder notierten, wie „kooperationsbereit“
       Neupert doch sei, wurden geschont: Verfahren gegen sie wurden schnell
       eingestellt.
       
       Stattdessen präsentierten die Strafverfolger mit dem Arbeitsschützer Albert
       Rettenmeier der zuständigen 35. Großen Strafkammer einen Gutachter, dessen
       Ausführungen vage und oberflächlich blieben. Ohne großangelegte
       Reihenuntersuchung von hunderten Betroffenen könne er keine validen
       Aussagen machen, ob die Arbeiter überhaupt gesundheitlich geschädigt
       wurden, lautete Rettenmeiers Fazit in der Substanz. Im Übrigen würden diese
       Untersuchungen Jahre dauern – nur sei er, Rettenmeier, dazu nicht in der
       Lage, weil er kurz vor der Pensionierung stehe.
       
       Der Vorsitzende Richter Thomas Kelm drohte deshalb schon Mitte September
       mit der Aussetzung des Verfahrens. Er wolle nicht „durch die Gegend eiern
       und Kosten verursachen“, tobte der Vorsitzende. Notfalls müsse eben auf die
       Ergebnisse der Reihenuntersuchung gewartet werden. Die juristische
       Aufarbeitung des Skandals hätte sich damit um Jahre verzögert.
       
       Mit der Bestellung der neuen Gutachter versucht die Dortmunder
       Staatsanwaltschaft jetzt zu retten, was zu retten ist. Arbeitsmediziner wie
       Kraus oder Toxikologen wie der aus Kiel stammende Hermann Kruse sollen
       darlegen, wie gefährlich Dioxine und PCB sind. Als Sachverständige geladen
       hat die Staatsanwaltschaft aber auch den Mathematiker Karl-Heinz Jöckel vom
       Institut für medizinische Informatik der Uniklinik Essen, dazu den
       Arbeitsmediziner Hans Drexler von der Universität Erlangen-Nürnberg.
       
       Als Vertreter der Nebenklage kritisiert Anwalt Birkenstock schon heute,
       dass Wissenschaftler Drexler selbst die aufwendigen Reihenuntersuchungen
       für ungeeignet hält, um einen Zusammenhang zwischen PCB-Belastungen und
       Erkrankung der Vergifteten zu beweisen. Immerhin: Der Prozess wird am 17.
       Oktober fortgesetzt.
       
       2 Oct 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Wyputta
       
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