# taz.de -- Neuseeland auf der Buchmesse: So klein ist die Welt
       
       > Neuseeland ist in diesem Jahr Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Unser
       > Autor las Bücher über Menschen, die nach oder von Neuseeland
       > auswanderten.
       
 (IMG) Bild: Tiefenentspannt sollen sie sein, die Neuseeländer. Das liegt bestimmt an den vielen Delfinen vor der Küste.
       
       Neuseeland stelle ich mir vor wie den Empfang im Garten der Grunewalder
       Residenz des Botschafters an einem der letzten schönen Sommerabende: sehr
       friedlich, außergewöhnlich nett – aber auch ein bisschen langweilig. Die
       Neuseeländer tranken deutsches Bier, die Deutschen neuseeländischen Wein.
       
       Der Botschafter sprach ein paar freundliche Begrüßungsworte, lud die
       Besucher ein, gern auch länger zu bleiben als auf der Einladung angegeben.
       „Aber wir sind doch hier in Deutschland“, witzelte ein Gast im
       Beamtentonfall. Gelächter. Klischee kann ich auch, dachte ich und guckte
       auf die Füße der Umstehenden. Entwarnung: Alle hatten Schuhe an.
       
       Ende Oktober werde ich eine Reise nach Neuseeland antreten. Wie jede Reise
       beginnt auch diese, beginnt auch meine, mit dem, was man so aufschnappt, in
       Gesprächen oder beim ersten Blick in den Reiseführer: Vor jedem Rugbymatch
       führen die Spieler einen archaischen Maoritanz auf, der Kaffee soll gut
       sein, und alle laufen am liebsten barfuß rum – solche Sachen. Vor den
       eigenen Eindrücken steht das Hörensagen, Wissen aus mindestens zweiter
       Hand.
       
       Umso verführerischer erschien mir die Möglichkeit, dieses Land noch vor
       meiner Einreise anhand von Büchern aus und über Neuseeland ein bisschen
       kennenzulernen. Neuseeland ist Ehrengast der Frankfurter Buchmesse, ich bin
       bald Gast im Land – das trifft sich gut.
       
       Seltsamerweise, das muss ich nach der Lektüre feststellen, habe ich mir aus
       den Unmengen von Neuerscheinungen und Neuauflagen fast ausschließlich
       Bücher herausgepickt über Ausländer, die unfreiwillig ihre Heimat gen
       Neuseeland verlassen, oder über Neuseeländer, die freiwillig ihre Heimat
       verlassen. Dabei, heißt es doch immer, Neuseeland sei der Himmel auf Erden.
       Sollte mich das beunruhigen?
       
       ## Working-Holiday-Visum
       
       Ich jedenfalls gehe freiwillig, für ein halbes Jahr. Die neuseeländischen
       Behörden waren so freundlich, mir gegen Zahlung einer moderaten Gebühr ein
       Working-Holiday-Visum auszustellen, mit dem ich durchs Land reisen und,
       wenn mir das Geld ausgeht, Aushilfsjobs annehmen kann.
       
       Am Ende der Welt hoffe ich, ein bisschen Abstand zu meinem deutschen Job
       und dem Leben, das ich jetzt schon vermisse, zu finden. Aus der
       Festanstellung in eine Freiheit auf Zeit – es ist ein schönes Gefühl, nicht
       zu wissen, was auf mich zukommt, aber auch ein ungewohntes. Ich bin
       angemessen aufgeregt.
       
       Machen Neuseeländer eigentlich auch Sabbaticals? So tiefenentspannt, wie
       die sein sollen, brauchen sie das bestimmt gar nicht. Menschen, die sich,
       zumindest laut dem Reise-Know-how-Sprachführer „Neuseeland Slang“ mit
       „Hooray“ voneinander verabschieden, machen nicht unbedingt den Eindruck,
       als würden sie zu Grübeleien über ihren Lebensentwurf neigen. Aber das ist
       natürlich wieder hemmungslos verallgemeinert.
       
       ## Abnorm und andersartig
       
       Janet Frame, geboren 1924, gestorben 2004, etwa brauchte bis nach ihrem 30.
       Geburtstag, bis sie ihre Jobs in Gastronomie und Hotellerie aufgab – Jobs,
       die heute häufig Gastarbeiter wie ich übernehmen. Dann traute sie sich, das
       seit Kindertagen erträumte Leben als Schriftstellerin zu führen.
       
       In ihrer Autobiografie „Ein Engel an meiner Tafel“ beschreibt sie das
       Neuseeland der 40er und 50er Jahre als Gefängnis: „Die einzige Freiheit,
       die ich besaß, war in meinem Inneren, in meinen Gedanken und in meiner
       Sprache.“ Jahrelang war Janet Frame in psychiatrischen Kliniken eingesperrt
       gewesen.
       
       Sie geht mit einem Stipendium nach England. „Ich wusste (…), dass es das
       Beste war, aus einem Land zu fliehen, in dem die Andersartigkeit, die in
       meinem Wesen lag, und selbst mein Wunsch zu schreiben seit meinen
       Studententagen als Anzeichen von Abnormalität betrachtet wurden.“ Auch
       Frame hat bei ihrer Reise nach England kiloweise Hörensagen im Rucksack:
       „Jeder sagte mir, was ich zu tun und wohin ich fahren müsse und was ich zu
       erwarten hätte.“
       
       Ich suche das Weite, Frame entflieht der Enge, die auch heute noch viele
       Neuseeländer in die Welt hinaustreibt. „Jeder kennt jeden und weiß mehr
       über einen als man selbst“, hat die Regisseurin Jane Campion, selbst
       Neuseeländerin, aber wohnhaft in Sydney, das soziale Klima ihrer Heimat mal
       beschrieben.
       
       Für ein halbes Jahr kann ich mir kaum etwas Schöneres vorstellen als diese
       überschaubare, gemächliche, idyllische Welt. Wie Frame jedenfalls wird mich
       wohl keine neuseeländische Stadt einschüchtern – erst recht nicht Dunedin
       mit seinen etwa 120.000 Einwohnern: „Ich dachte an die ’dunklen satanischen
       Mühlen‘, an Menschen ’eingesperrt wie Eichhörnchen‘; an Feuersbrünste und
       Pestepidemien und Zwangsrekrutierungen.“
       
       ## Tiergarten, Zoo und Friedrichshain
       
       Fasziniert dagegen, fasziniert von der Großstadt Berlin, wirkt Lloyd Jones,
       von dem ich vorher genauso wenig gehört hatte wie von Janet Frame (oder
       Emily Perkins, deren Familiensaga „Die Forrests“ ich als Nächstes lesen
       werde). Ausgiebig beschreibt er in „Die Frau im blauen Mantel“ einzelne
       Orte: Zoo, Tiergarten, den Friedrichshainer Kiez rund um die Warschauer
       Straße und all die U- und S-Bahnen, mit denen man durch die Stadt kommt.
       
       Im Roman schickt er einen Landsmann namens Defoe an die Spree, um an seiner
       Doktorarbeit über den Lungenfisch zu arbeiten. Er findet Unterschlupf bei
       einem blinden Mann und einer schwarzen Frau, Ines, der Heldin des Buchs,
       die in Berlin nach ihrem nach der Geburt vom Vater geraubten Kind sucht.
       
       Der Blinde beschreibt Defoe als „sehr uneuropäisch“, wegen seiner
       „unverblümten Art“: „Er sprach freimütig, beängstigend freimütig.“ Hm, das
       beißt sich jetzt mit dem Kiwiklischee, wonach man dort mit seiner Meinung
       eher hinter dem Berg hält, mit einem gewissen Hang zur Konformität, ein
       großes Thema in Janet Frames Autobiografie, wie übrigens auch die exotische
       Flora ihrer Heimat – Eukalyptusbäume, Tussockgras, Südseemyrtensträucher –,
       die sie in ihrer Schüchternheit der Gegenwart von Menschen vorzieht.
       
       Noch lieber aber ist ihr Literatur: Frame inhaliert jedes Buch, das ihr
       über den Weg läuft, Defoe hört in Berlin zum ersten Mal von Bertolt Brecht
       – Letzteres entspricht dem Klischee, Ersteres beweist, dass immer auch das
       Gegenteil wahr ist. Es wird höchste Zeit, mir selbst ein Bild zu machen.
       „Es gibt nichts Besseres als einen neuen Ort, um sich von den Schuppen vor
       den Augen zu befreien“, schreibt Lloyd Jones in seiner Danksagung am Ende
       von „Die Frau im blauen Mantel“ über seine Stipendienzeit in Berlin und
       umreißt damit auch meine Hoffnungen für den Aufenthalt in Neuseeland.
       
       Es ist ein frommer Wunsch, aber wenn ich wiederkomme, würde ich gern
       manches klarer sehen – beruflich wie privat. Und ein bisschen Entspanntheit
       möchte ich als Souvenir mit zurückbringen.
       
       ## Ein verpflanzter Baum
       
       Gerade weil sich die Voraussetzungen und Bedingungen meiner Reise so
       grundlegend von denen jüdischer Emigranten im Dritten Reich unterscheiden,
       hat mich Freya Kliers Sachbuch „Gelobtes Neuseeland – Fluchten bis ans Ende
       der Welt“, zur Buchmesse neu aufgelegt, so gefesselt. Darin versammelt die
       1988 aus der DDR zwangsausgebürgerte Autorin und Filmemacherin
       Einzelschicksale bekannter (Karl Popper, Karl Wolfskehl) wie unbekannter
       Exilanten, akribisch recherchiert und so empathisch erzählt, als hätte
       Klier sie alle selbst gekannt.
       
       Einige haben sich gut integriert, geheiratet, ihren Namen anglisiert,
       andere kommen nie richtig dort an. Zu Letzteren gehört der Dichter Karl
       Wolfskehl, der einen gemeinsamen Bekannten mit Janet Frame hat: den
       Schriftsteller Frank Sargeson, so klein ist die neuseeländische
       Künstlerwelt. „Ganz und gar angewiesen auf mich selbst, die Quellen in mir
       selbst – dürstet mich, dann trinke ich eben aus mir“, schreibt Wolfskehl
       kurz nach seiner Ankunft 1938 in einem Brief, nachzulesen im Bändchen
       „Neuseeland erzählt – Vom anderen Ende der Welt“: „Aber die Luft ist
       leicht, schimmernd und transparent, und viele fremde, wundervolle Bäume
       grüßen dennoch vertraut, als wäre ich selber ein verpflanzter Baum.“
       
       Keine andere Wahl zu haben als die Flucht und trotzdem so hoffnungsvoll in
       die Zukunft zu blicken – das hat mich, nicht nur an Wolfskehl, tief
       beeindruckt und berührt, zumal die in Nazideutschland Verfolgten auch in
       Neuseeland mit Ressentiments zu kämpfen hatten, eben weil sie aus
       Deutschland kamen.
       
       Im Vergleich dazu erscheint mir die Aufgeregtheit um meinen eigenen Trip
       ans Ende der Welt – mit Rückflugticket – klein, geradezu nichtig. Wird
       schon schiefgehen. Das Einzige, was ich zu „fürchten“ habe, sind lahme Jobs
       und hinterwäldlerische Deutschenklischees, die ich wortreich zu widerlegen
       gedenke. In diesem Sinnne: Hooray, Germany! Kia ora, New Zealand!
       
       9 Oct 2012
       
       ## AUTOREN
       
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