# taz.de -- Kommentar Bürgermeisterwahl Stuttgart: Grüne Republik Baden-Württemberg
       
       > Das Ländle ist mit dem Sieg von Fritz Kuhn das Zukunftslabor von
       > Deutschland. Hier wird die Verknüpfung des Grünen mit dem Bürgerlichen
       > erfolgreich erprobt.
       
       Die Bürger der baden-württembergischen Landeshauptstadt Stuttgarts haben
       Fritz Kuhn zu ihrem Oberbürgermeister gewählt. Damit wird zum ersten Mal in
       der deutschen Geschichte ein Grüner die Verwaltung einer Landeshauptstadt
       und einer Stadt mit über einer halben Million Einwohnern anführen.
       Bisheriger grüner Rekordhalter war Dieter Salomon in Freiburg (230.000
       Einwohner).
       
       Dennoch ist die absolute Mehrheit für Kuhn im zweiten Wahlgang keine
       Sensation. Sie ist Ausdruck der veränderten gesellschaftlichen und
       politischen Realitäten im Land Baden-Württemberg mit seinem grünen
       Ministerpräsidenten und in der Stadt Stuttgart, wo die Grünen die größte
       Fraktion im Gemeinderat stellen und die kulturelle Hegemonie übernommen
       haben.
       
       Vordergründig vollzog sich dieser Wandel wegen der Ereignisse der letzten
       beiden Jahre, dem Bürgerprotest gegen den neuen Bahnhof und die vormalige
       Staatspartei CDU. Aber möglich wurde die Grüne Republik Baden-Württemberg
       nur, weil Leute wie Rezzo Schlauch, der heutige Ministerpräsident Winfried
       Kretschmann und Kuhn selbst die Grünen in den 80ern nicht als langhaarige
       Sozialismus-Freunde, sondern als progressive Wertkonservative mit
       Heimatbewusstsein positionierten.
       
       Wer die größte Fraktion hat, hat aber noch lange keine Mehrheit. Und
       insofern hat Kuhn im Grunde genau den grünen Wahlkampf geführt, mit dem man
       in Baden-Württemberg zur Volkspartei neuen Typs geworden ist und bei
       Persönlichkeitswahlen sogar gewinnen kann. Was bei Vertretern der reinen
       Lehre selbstverständlich als opportunistische Anpassung verbucht wird.
       
       ## Für die CDU ist nicht alles verloren
       
       Interessant ist, dass vor wenigen Wochen im angeblich grünen Konstanz eine
       linke Grüne von den Wählern gnadenlos ignoriert und ein CDUler mit
       Ökoprofil gewählt wurde. Heißt: Es kommt auf die Verknüpfung des Grünen mit
       dem Bürgerlichen an – und auf die Person, die das repräsentiert. Dann ist
       auch für die CDU – im Gegensatz zur baden-württembergischen SPD – noch
       nichts verloren.
       
       Dem Berliner Selfmademan und ehemaligen Werber Sebastian Turner hätte man
       zugetraut, einen upgedateten, smarten, zeitgemäßeren Konservatismus zu
       vertreten, der ihn über das altbürgerliche Lager hinaus anschlussfähig
       macht. Doch Turners Wahlkampfstrategie war konfrontativ angelegt und in den
       letzten beiden Wochen baute er gar die Mauer wieder auf und versuchte,
       Feindbilder aus dem letzten Jahrtausend wiederzubeleben. Offenbar sah er
       keine andere Chance. Damit kam er immerhin noch auf 45 Prozent. Aber
       gewinnen kann man damit nicht mehr. Das ist für das neue Baden-Württemberg
       eine sehr, sehr gute Nachricht.
       
       Am Ende gelang es Turner auch nicht, den Eindruck zu widerlegen, dass mit
       ihm auch in der Zeit nach dem Bahnhofskrieg die Geschäftsinteressen der
       alten Wirtschaftsmacht prioritär vertreten werden. Mit ihm haben auch all
       jene verloren, die ihn in der Stuttgarter CDU durchgedrückt haben; an
       erster Stelle die Kanzlerin.
       
       ## Kuhn gewann auch die Altbürgerlichen
       
       Im Gegensatz zu Turner wusste Kuhn, dass er als Basis für den Wahlsieg und
       die kommenden acht Jahre eine Unterstützung braucht, die über das
       neubürgerliche Lager hinaus Teile des altbürgerlichen umfasst – und wie er
       dort landen kann. Entsprechend legte er seinen Wahlkampf im Grunde als den
       eines Titelverteidigers an. In den letzten Tagen keilte er leider etwas
       unsouverän zurück, weil er vor den Stuttgartern nicht als Weichei dastehen
       wollte. Naja.
       
       An Kuhn wurde viel herumgemäkelt, etwa dass er kein Menschenfischer sei wie
       sein Vorvorgänger Manfred Rommel (CDU) oder der 1996 fast gewählte
       Parteifreund Schlauch. Doch zumindest im Vergleich mit dem scheidenden
       Wolfgang Schuster (CDU) ist Kuhn ein veritabler Charmebolzen.
       
       Man kann auch sagen: Wer könnte das grün-konservative Bürgertum Stuttgarts
       idealer repräsentieren als Kuhn, der den Stuttgartern – dafür muss man kein
       Wahrsager sein – nun acht Jahre lang seinen Klassiker „Mit grünen Ideen
       schwarze Zahlen schreiben“ vorsingen wird?
       
       ## S21 bleibt ein Thema
       
       Denn im Vergleich mit anderen Städten geht es Stuttgart selbstverständlich
       sehr gut, und noch ist die Frage nicht beantwortet, ob man sich deswegen
       einen Grünen leistet – oder damit das so bleibt. Klar ist auch, dass das
       per Volksentscheid bestätigte Verkehrs- und Immobilienprojekt Stuttgart 21
       auch den Oberbürgermeister Kuhn nicht zur Ruhe kommen lassen wird. Am Ende
       wurde auch er von harten S21-Gegnern ins Amt gebracht.
       
       Doch grundsätzlich ist nun nicht mehr zu leugnen, dass sich das
       gesellschaftspolitische Zukunftslabor dieser Republik in Stuttgart
       befindet, mit seinen Bürgern, die den Wunsch nach Bewahrung mit dem Willen
       zu Veränderung verknüpfen wie derzeit niemand sonst. Das ist hart für
       Berlin, Hamburg oder München – aber es ist so. Da hilft auch der schönste
       Kehrwochenwitz nichts mehr.
       
       21 Oct 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Peter Unfried
       
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