# taz.de -- Nancarrow, Pionier der Maschinenmusik: 200 Anschläge pro Sekunde
       
       > Am 27. Oktober wäre er 100 Jahre alt geworden, der geniale
       > US-amerikanische Komponist Conlon Nancarrow. Eine Reminiszenz.
       
 (IMG) Bild: Nancarrow an seiner Stanzmaschine.
       
       Jedes Mal, wenn Conlon Nancarrow ein Loch in seine perforierte Papierrolle
       gestanzt hatte, klang es, als sei die Welt wieder ein Stück aus den Fugen
       geraten. Loch um Loch, Ton um Ton. Der nordamerikanische Komponist hat auf
       diesen meterlangen Rollen Partituren notiert. Statt mit Taktstrichen und in
       konventioneller Notenschrift gab er Notenlängen mit Strichen und Punkten
       hinter den Noten an.
       
       Eine Sisyphusarbeit, die er zwischen 1940 und 1997 weitgehend abgeschieden
       von der Weltöffentlichkeit in seinem Exil in Mexico City leistete.
       Hinterlassen hat Nancarrow dabei ein relativ schmales Oeuvre, knapp 50, wie
       er sie selbst nannte, studies. Werke, überwiegend für das Player Piano, das
       sogenannte mechanische Selbstspielklavier, in das er die gestanzten Rollen
       einlegte. Mit dieser Technik erzeugte er eine tumultöse, spektakelnde
       musikalische Unruhe. Ein Werk von großer Schroffheit, rasend schnell,
       virtuos, aber auch ziemlich beklemmend.
       
       Nach Mexiko war Nancarrow 1939 ausgewandert. In den USA erhielt er nach
       seiner Rückkehr aus dem Spanischen Bürgerkrieg, wo er als 25-Jähriger gegen
       die Franquisten gekämpft hatte, keinen Pass mehr. In Mexiko-Stadt lebte er
       im Bezirk Coayacán, war mit vielen Künstlern bekannt, zeitweise mit der
       Künstlerin Annette Margolis verheiratet. 1956 wurde er mexikanischer
       Staatsbürger. In der McCarthy-Zeit galt er in den USA als Persona non
       grata. Erst 1969 erschien dort die erste Schallplattenaufnahme mit seiner
       Musik. Spät, aber schließlich doch erhielt Nancarrow 1982 das renommierte
       Mac-Arthur-Stipendium.
       
       Zwischenzeitlich hatte eine junge, mit Computern vertraute
       Musikergeneration Nancarrow wiederentdeckt, und er wurde zu Gastspielen in
       seine alte Heimat und nach Europa eingeladen. Frank Zappa sagte, dass er
       maßgeblich von Nancarrows Musik beeinflusst wurde. Für den Ungarn György
       Ligeti, selbst weltberühmter Musiker, war Nancarrow „einer der
       bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts“. Und John Cage entdeckte an
       seinem gleichaltrigen Kollegen etwas, was einst der Philosoph Ralph Waldo
       Emerson über seinen Freund Henry David Thoreau verlauten ließ: „Wir haben
       es hier mit einem ganz neuen theoretischen Ansatz zu tun.“
       
       ## Die letzte Grenze der Musik
       
       Nancarrows Leistung besteht darin, auf dem ursprünglich für Menschenhände
       ausgerichteten Klavier Menschenunmögliches hörbar zu machen: 200 Anschläge
       pro Sekunde. Die Hämmer seines Player Pianos ummantelte er mit Blech und
       Stahl, um ihren mechanischen Klang zu verstärken. Dergestalt erschufen sie
       endlose Tonkaskaden, traubenartige Melodien, überlagert von komplexen
       synkopischen Rhythmen und strenger Dynamik. Nancarrow war von
       Geschwindigkeit und Zeitverhältnissen besessen. Zeit sei die letzte Grenze
       der Musik, diese galt es zu überwinden.
       
       In seinen Kompositionen ändern sich Geschwindigkeiten alle paar Sekunden
       und prasseln unbarmherzig nieder. Er räumt dem absolute Priorität vor den
       Harmonien ein. Seine Musik für Selbstspielklavier entwickelte er mit
       mathematischer Präzision. Als Laie kann man mit der Information, dass
       Nancarrow mit Vorliebe swingende Triolen mit den nächsthöheren Zahlen der
       Fibonacci-Folge verschob, wenig anfangen. Die abstrakte Schönheit seiner
       Musik überträgt sich auch so. Seine rhythmischen Irritationen und
       Taktwechselstrategien, seine präzise Klangstrenge haben bereits vor einem
       halben Jahrhundert die Sinnlichkeit heutiger Maschinenmusik vorweggenommen.
       
       Keine Frage, Nancarrows Klangideal fordert einem höchste Konzentration ab
       und den Willen, die Rasanz auszuhalten. Aber wer sich die Mühe macht, wird
       nachhaltig begeistert sein. Auch deshalb, weil Nancarrow Motive aus dem
       Jazz und der Zwölftonmusik gleichberechtigt nebeneinanderstehen lässt und
       sie quasi in Mach-3-Geschwindigkeit andere Sphären ansteuern lässt.
       
       ## Im Schulorchester begonnen
       
       Mit Jazz und dem „Train“-Motiv des Blues war Nancarrow von Kindesbeinen an
       vertraut. Aufgewachsen war er in Texarkana im Bundesstaat Arkansas, einst
       Knotenpunkt mehrerer Eisenbahnlinien. Schon im Schulorchester spielte er
       Jazz und hatte den Songaufbau von Boogie-Woogie-Pianomelodien
       verinnerlicht, die immer wieder in seine Kompositionen einflossen. Dass er
       mit seiner Arbeitsweise die Fantasie dreier Schriftsteller befeuert hat,
       ist eine kaum bekannte Tatsache. „Ich ertappe mich dabei, dass meine Augen
       in den Weltenraum hinausstrebten, von Stern zu Sternen eilten, ein dumpfer
       Versuch meines Hirns, […] die Diamantgebirge der Gravitation zu
       durchstreifen“, fasste Hans Henny Jahnn in dem Roman „Fluss ohne Ufer“
       (1946) Nancarrows kompositorisches Multitasking in Worte.
       
       Der US-Autor William Gaddis scheiterte mit seinem zu Lebzeiten
       unveröffentlicht gebliebenem Versuch, anhand von Nancarrows Werk eine
       Kulturgeschichte des mechanischen Klaviers zu schreiben. Nichtsdestotrotz
       tauchen Motive aus dessen Biografie in mehreren Gaddis-Romanen auf. Und
       Kurt Vonnegut nahm in seinem Romandebüt „Player Piano“ (1952), einer
       literarischen Dystopie über das Zeitalter der Industrialisierung, bereits
       im Titel Bezug auf Nancarrows wahnwitzige Kompositionsmethoden. Auf dem
       Cover der US-Taschenbuchausgabe ist die Silhouette eines Mannes zu sehen,
       dessen Kopf und Hände von der Rolle eines mechanischen Selbstspielklaviers
       platt gewalzt werden. Vonnegut ließ der ersten industriellen Revolution,
       die die Muskelarbeit ersetzte, eine zweite folgen, die die geistige Arbeit
       ersetzte. Eine Vorstellung, die auch zu Nancarrows Musik passt.
       
       In den 1940er Jahren war das Selbstspielklavier bereits wieder aus der
       Mode. Während der Großen Depression gingen die meisten Hersteller von
       Player Pianos bankrott. So wurde das Selbstspielklavier zu einem Relikt der
       noch jungen Unterhaltungsindustrie, technisch überholt von Radio und
       Schallplatte.
       
       ## Maschinelle Musik
       
       Die Entwicklungsgeschichte des Selbstspielklaviers steht sinnbildlich für
       die fortschreitende Automatisierung der westlichen Welt. „Musik ist bereits
       maschinell, seit die Menschen aufgehört haben, sie nur mittels Gesang
       darzubieten“, erklärte der französischamerikanische Historiker Jacques
       Barzun einen alten Menschheitstraum. Nancarrows Kompositionen setzen sich
       mit der Geschichte des Player Piano und seiner mechanischen Funktionsweise
       äußerst produktiv auseinander. Zeit ist Geld, diesen erzkapitalistischen
       Grundsatz verkehrte Nancarrow in sein Gegenteil.
       
       Der gigantische Arbeitsaufwand stand in keiner Relation zum Ergebnis: Den
       zum Teil nur etwa 45-sekündigen Kompositionen gingen oft monatelange
       Arbeiten an der Stanzmaschine voraus. Seine Notationsrollen transportierten
       riesige Mengen von Tönen, oft simultan in unterschiedlichen Zeitläufen.
       „Ich habe eine kleine musikalische Nische entdeckt, aber ich glaube, ich
       habe sie gut erforscht“, stapelte Conlon Nancarrow tief.
       
       Seine Musik ist Ausdruck einer fundamentalen Verunsicherung, die mit der
       Geschichte des Totalitarismus zu tun hat. Die Idee, den Faschismus zu
       bekämpfen, kam dem nordamerikanischen Komponisten nach einer Reise durch
       Hitlerdeutschland, 1936. Vom Stalinismus hatte Nancarrow nach seinem
       Spanienabenteuer genug. Mit den Auswirkungen der industriellen
       Technisierung setzte er sich sein Leben lang auseinander.
       
       27 Oct 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Julian Weber
 (DIR) Julian Weber
       
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