# taz.de -- Staat und Demokratie in den USA: Gegen den „Geht-schon-Spirit“
       
       > Ob Bowling-Verein oder Politgruppe: Die US-Amerikaner ziehen sich aus dem
       > öffentlichen Raum zurück. Um das zu ändern, entstehen im ganzen Land
       > „Demokratie-Labs“.
       
 (IMG) Bild: Poolin'! Eine beliebte Tätigkeit der US-Amerikaner, wenn Wahlkampf ist
       
       Die USA mögen das höchste Einkommen pro Kopf haben, aber bei der
       Lebenserwartung rangieren sie auf Platz 38, gleich hinter Kuba. Die
       Ungleichheiten zwischen den Ethnien und den Bildungsmöglichkeiten in den
       USA sind krass und ziemlich beunruhigend. Eine Amerikanerin mit asiatischem
       Hintergrund im Nordosten kann bis zu 40 Jahre älter werden als ein
       männlicher Ureinwohner aus Dakota. Auch das Durchschnittsalter der weißen
       Arbeiterklasse ist in den letzten zwanzig Jahren gesunken.
       
       Dessen ungeachtet tendiert die Mehrheit der Amerikaner zum immerselben
       Optimismus – manche nennen es Verleugnung. Sie glauben fest daran, dass sie
       lange leben und Mittelklasse-Standards erreichen werden.
       Sozialwissenschaftler haben es schwer, diesen Glauben zu erschüttern, denn
       so viele Amerikaner identifizieren sich selbst als Mittelschicht. Je nach
       Definition umfasst diese gefühlte Mittelschicht ein Viertel bis zwei
       Drittel aller amerikanischen Haushalte. Diese Selbstdefinition erlaubt uns
       zu glauben, wir lebten über dem Durchschnitt.
       
       Trotzdem wissen die Amerikaner natürlich, dass etwas schiefläuft. Von der
       Tea Party bis zu den Aktivisten von Occupy Wall Street, also durch alle
       politischen Spektren hindurch, trauen die meisten der Regierung überhaupt
       nicht zu, ihre Rechte oder auch nur ihre Grundbedürfnisse zu respektieren.
       
       Zudem hat die Wirtschaftskrise unsere Krise der Demokratie weiter
       verschärft. Schon jetzt fühlt es sich so an, als ob es einfach keine Lehrer
       mehr gibt, die man noch entlassen könnte. Dennoch haben wir kaum eine
       Ahnung davon, wohin unsere Steuergelder fließen, geschweige denn Kontrolle
       darüber, wie die Regierung an ihre Gelder kommt. Es überrascht also nicht,
       dass die Amerikaner nur zu einem abgrundtief niedrigen Prozentsatz wählen
       gehen. Seit dem Zweiten Weltkrieg sinken Wahlbeteiligung und jede
       politische Betätigung stetig.
       
       Natürlich beschweren wir uns unentwegt über die leeren Wahlversprechen, das
       heißt aber nicht, dass wir die Kandidaten ehrlich darüber reden hören
       wollten, wie sie die Armut im Land zu bekämpfen gedenken. Uns mag es nicht
       so gut gehen, aber wir werden es schaffen, solange jeder von uns hart
       arbeitet. Das ist unser Mantra. Anders zu denken, wäre zu deprimierend.
       
       ## Der Staat ist uns zu korrupt
       
       Der Staat passt nicht zum Amerikanischen Traum. Trotzdem haben die meisten
       Amerikaner eine nuanciertere Sicht auf Staat und Regierung als Ronald
       Reagan. Der behauptete seinerzeit, „der Staat ist nicht die Lösung unserer
       Probleme, sondern das Problem selbst“. Viele empörten sich, als Mitt Romney
       in einem heimlichen Videomitschnitt 47 Prozent der Amerikaner als „abhängig
       vom Staat“ abqualifizierte (90 Prozent wäre treffender gewesen), und es
       wurde einmal mehr klar, wie unverzichtbar die öffentliche Hand ist.
       Dennoch, in unseren Geschichten über das, was uns ausmacht, erwähnen wir
       sie so gut wie nie.
       
       Stattdessen sehen wir lieber eine TV-Story nach der anderen über
       verschwendete Regierungsgelder an und sind skeptisch, ob einzelne Politiker
       dazu imstande sind, das marode System zu reparieren. Ergo wollen wir auch
       keine höheren Steuern zahlen. Die aber wären nötig, um den öffentlichen
       Sektor am Leben zu erhalten oder gar auszubauen. Weil wir uns weigern, die
       für eine effektive Sozialpolitik nötigen Steuern zu zahlen, wird die
       öffentliche Hand weiter zittern, und wir werden weiter unser Vertrauen in
       sie verlieren.
       
       Dass Amerikaner einem dramatischen Politikwechsel eher nicht zugeneigt
       sind, verschärft den Teufelskreis noch. Selbst wenn Reformen durchgeführt
       werden, etwa Obama-Care, ein Gesetz, das mehr Amerikaner mit einer
       Krankenversicherung ausstattet, dann werden diese nur schrittweise
       umgesetzt, sind also bestenfalls Flickwerk. Warum die Amerikaner so sind?
       Weil sie fürchten, dass die Regierung den Job vermasseln wird und sie am
       Ende ohne irgendetwas dastehen werden. Also arrangieren wir uns lieber mit
       dem, was wir haben – kaputt wie es ist.
       
       Der amerikanische „Geht-schon-Spirit“ kann ziemlich einsam machen. Nicht
       nur, dass die politische Beteiligung in den vergangenen 50 Jahren stetig
       zurückgegangen ist, auch unser soziales Engagement und unsere sozialen
       Bindungen sind geringer geworden. Die Studie von Robert Putnam, „Bowling
       Alone“, (Alleine Bowlen) zeigt, dass Amerikaner sich aus Bowling-Vereinen
       genauso zurückgezogen haben wie aus direkt politischen Zusammenhängen.
       
       Laut der seriösesten Studie zu Werten und Befindlichkeiten der Amerikaner,
       dem General Social Survey, ist ihr Vertrauen untereinander zwischen 1976
       und 2006 um zehn Prozent gefallen. Andere Studien attestieren eine stetig
       ansteigende soziale Isolation. Ein Viertel aller Amerikaner haben angeblich
       niemanden, dem sie sich wirklich anvertrauen können, egal ob es sich um
       eine Scheidung handelt, Psychoprobleme oder den Jobverlust.
       
       Einige Soziologen sagen, das Internet durchbräche dieses Muster, denn es
       helfe, mit einer pluraleren und größeren Gruppe von Menschen in Kontakt zu
       treten. Andere argumentieren, gerade das Internet verstärke die
       Polarisierung, denn die Person, die meine Ansicht exakt teilt, ist ja nur
       einen Mausklick entfernt.
       
       Die zunehmende soziale Isolation prägt auch die amerikanische Landschaft.
       Im Jahr 1960 wohnten ein Drittel der Amerikaner in Vorstädten, heute lebt
       die Mehrheit dort. Es ist schwierig, Solidarität mit anderen aufzubauen,
       wenn man jeden Abend ins eigene Bett am Stadtrand zurückkehrt, am nächsten
       Morgen vom Wohnzimmer in die Garage läuft, ins Auto steigt, anschließend
       auf dem firmeneigenen Parkplatz parkt, acht Stunden im Büro sitzt – um
       anschließend wieder nach Hause zu fahren und am nächsten Tag das Gleiche
       wieder zu tun.
       
       Um dieses prinzipielle Misstrauen in den Staat und in die Mitmenschen zu
       brechen, wird es sehr viel mehr Anstrengung brauchen, als Präsident Obama
       wiederzuwählen. Es bedarf eines sorgsamen, auch mühseligen Prozesses, um
       die soziale Textur in den USA neu zu weben – mithilfe von ausgewogenen
       Medien und Initiativen, die die Bürger besser informieren sowie neuen
       sozialen und politischen Institutionen, in denen sich ganz normale Leute
       engagieren können.
       
       ## Neue Demokratie-Labs
       
       Und genau diese kleinen Demokratie-Labs entstehen gerade überall im Land.
       Bislang sind sie noch sehr klein, aber nichtsdestoweniger recht
       vielversprechend. Diesen April haben Tausende New Yorker für Stadtprojekte
       gestimmt, die von den Stadträten – beziehungsweise den von ihnen
       verwalteten Budgets – finanziert werden sollten. Sie haben mitgeredet, für
       welche Projekte die Stadt Geld ausgibt, und damit sogenannte
       Bürgerhaushalte eingefordert. Normalerweise spekulieren Stadträte über die
       Wünsche der EinwohnerInnen nur, arbeiten dann mit Agenturen zusammen, die
       sie am besten kennen, und berücksichtigen, wenn überhaupt, nur die
       Bewohner, die sich am lautesten beschweren. Dieses Mal aber wussten die New
       Yorker, wohin ihr Geld floss und warum.
       
       59 Prozent der New Yorker, die an diesen Treffen teilgenommen haben,
       sagten, dass die amerikanische Demokratie entweder radikal verändert werden
       müsse oder komplett vor die Hunde gehen werde – und trotzdem waren sie da
       und haben mitgearbeitet. Etwa die Hälfte von ihnen hatte noch nie zuvor ein
       Mitglied der Stadtverwaltung kontaktiert. Oder das lag zumindest sehr lange
       zurück. 64 Prozent waren Frauen, dabei beläuft sich der Frauenanteil in New
       York offiziell auf 52 Prozent. 53 Prozent der engagierten Bürger waren im
       Jahr 2008 zur Wahl gegangen.
       
       Bei den New Yorker Treffen gab es unzählige Situationen, in denen Anwohner
       vortraten, um für ihr eigenes Lieblingsprojekt zu kämpfen – aber am Ende
       das der Nachbarn unterstützten. Amerikaner sind offenbar eher geneigt zu
       teilen, wenn sie Teil eines klar erkennbaren gemeinsamen Netzwerkes sind.
       
       Bislang finden sich Experimente wie Nachbarschaftstreffen und
       Bürgerhaushalte nur im lokalen und kleinen Rahmen, doch sie wachsen
       schnell. Nachdem Vallejo als bisher größte Stadt in Kalifornien 2008
       Bankrott anmelden musste, hat sie nun als Erste den Bürgerhaushalt
       eingeführt. Amerikaner beginnen mehr von Nichtregierungsorganisationen zu
       verlangen, etwa von Banken. Der Nationale Verband der Genossenschaftsbanken
       berichtete, dass in den letzten drei Monaten von 2011, Amerikaner 4,5
       Milliarden US-Dollar bei den Banken abgehoben und bei Genossenschaftsbanken
       angelegt haben. 770.000 neue Konten wurden eröffnet. Vielleicht formiert
       sich in den USA ja doch gerade eine kritische Masse, die lieber einen
       dramatischen Politikwechsel will, als einmal mehr zu versuchen, das marode
       System zu flicken.
       
       29 Oct 2012
       
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