# taz.de -- Debatte Entwicklungskrise Indien: Von wegen Wachstumsnation
       
       > Keine Strom, keine Straßen, keine Rechtssicherheit: Warum das
       > Wirtschaftswunder in der größten Demokratie der Welt ausbleibt.
       
 (IMG) Bild: Boom-Nation Indien: 2011 verhungerten 1,7 Millionen Kinder unter sechs Jahren. 600 Millionen Menschen leben ohne sanitäre Einrichtungen.
       
       Die Hoffnung stirbt immer zuletzt. In dieser Woche gründete eine
       sympathische Gruppe hartnäckiger Antikorruptionskämpfer in Indien eine neue
       Partei. Einen Tag lang war die berühmte Parlamentsstraße vor den hohen Haus
       der Demokratie in Delhi mit grünen und roten Teppichen ausgelegt.
       Aktivisten aus dem ganzen Land ließen sich auf ihnen nieder, um ihre
       Beitrittserklärung zu der neuen „Partei des einfachen Mannes“ (Aam Aadmi
       Party, AAP) auszufüllen.
       
       Die Stimmung war ausgelassen, Arm und Reich begegneten sich ausnahmsweise
       auf Augenhöhe. Sowohl arme Straßenkehrer als auch reiche Ärzte vereint das
       Entsetzen über die Korruption in Indien. Auch Jung und Alt kamen sich nahe:
       die Jungen, weil sie auf eine neue politische Bewegung hoffen, die Alten,
       weil ihnen der Sittenverfall in der indischen Politik im Vergleich zu ihrer
       Jugendzeit unerträglich erscheint.
       
       Der Führer dieser Hartnäckigen heißt nun Arvind Kejriwal – vielleicht ein
       Name, den man sich merken muss. Der ehemalige Steuerbeamte hat ein wenig
       von der Geduld und Ausdauer Mahatma Gandhis geerbt. Und wer weiß: Womöglich
       ist Indien reif für einen neuen Gandhi. Dem Land geht es viel schlechter
       als erwartet.
       
       ## Fehlende Landreform
       
       Erst im Rückblick wird heute klar, wie unangemessen die Erwartungen an den
       wirtschaftlichen und politischen Aufstieg Indiens waren. Von seiner
       Unabhängigkeit im Jahr 1947 bis 1991 verharrte das Land in einem
       sozialistischen Entwicklungsstillstand. Große Reformen blieben aus, weil
       das Land an seine Führer und die vom englischen Kolonialreich übernommenen
       Institutionen glaubte.
       
       Der Republikgründer Jawaharlal Nehru, seine Tochter Indira Gandhi und sein
       Enkel Rajiv Gandhi regierten das Land nacheinander fast ohne Unterbrechung
       und genossen uneingeschränktes Vertrauen in großen Teilen der Bevölkerung.
       Ihre historischen Versäumnisse aber, etwa bei der Stückwerk gebliebenen
       Landreform oder dem mangelnden Aufbau staatlicher Institutionen, will man
       bis heute nicht einsehen.
       
       Auch deshalb griffen die Reformen von 1991 zu kurz. Indien öffnete sich
       damals wie China zehn Jahre zuvor der Weltwirtschaft. Ausländische
       Unternehmen durften nun im Land investieren, die zuvor stark eingeschränkte
       Privatwirtschaft konnte neue Branchen wie die Softwareindustrie und den
       Telekommunikationsbereich aufbauen.
       
       Das tat der indischen Wirtschaft ungeheuer gut, der alte Unternehmergeist
       des Landes lebte neu auf. Er tat es dort, wo Indien schon in Urzeiten
       reüssierte: in den alten Metropolen der Seidenstraße im Bundesstaat Gujarat
       oder in südindischen Hafenstädten wie Chennai, dem früheren Madras. Hinzu
       kam Bangalore im Bundesstaat Karnataka, ebenfalls in Südindien, als neue
       Softwarehauptstadt des Landes.
       
       ## BRC statt BRIC
       
       Das alles brachte dem Land über zwei Jahrzehnte hohes Wachstum und löste
       eine weltweite Euphorie aus. Nach Japan und China erschien Indien als das
       dritte große asiatische Wirtschaftswunder. Bald galt Indien nicht mehr als
       Entwicklungs-, sondern Schwellenland.
       
       Die US-Investmentbank Goldman Sachs kreierte daraus einen leicht
       verkäuflichen Trend mit der Formel BRIC für Brasilien, Russland, Indien und
       China. Die Bank prophezeite, die BRIC-Staaten würden fortan die
       Weltwirtschaft führen.
       
       Doch bei Indien hatte man einfach nicht genau genug hingeschaut. Heute aber
       zeigen sich die strukturellen Entwicklungshindernisse des Landes
       überdeutlich. Der Vertrauenseinbruch in der Wirtschaft ist dramatisch. In
       keiner großen Volkswirtschaft der Welt hat das Wachstum in diesem Jahr so
       schnell nachgelassen wie in Indien. Zahlreiche Umfragen zeigen, wie die
       bisher so optimistische Bevölkerung ihre Zuversicht einbüßt.
       
       Es liegt an allem: Die Inflation ist seit Jahren fast zweistellig,
       besonders die Lebensmittelpreise überfordern die Armen. Die
       Arbeitslosigkeit steigt mit der schnell wachsenden arbeitsfähigen
       Bevölkerung. Der Staat hat abgewirtschaftet. Schon liegt die indische
       Staatsverschuldung, gemessen am Anteil vom Bruttosozialprodukt, höher als
       in Griechenland und Spanien. Steigt sie weiter, könnten die internationalen
       Rating-Agenturen den Wert indischer Staatsanleihen bald auf Ramschstatus
       herabstufen.
       
       Die Gründe sind weder konjunkturell noch wesentlich durch die
       internationale Wirtschaftskrise bedingt. Sie sind hausgemacht. Denn den
       indischen Behörden im ganzen Land gelingt es nicht, die Voraussetzungen für
       mehr Wachstum zu schaffen. Sie bauen nicht genug Straßen, nirgendwo gibt es
       eine zuverlässige Stromversorgung, zudem mangelt es an jeder Form von
       Wirtschaftsaufsicht.
       
       Laut Weltbank ist die indische Vertragssicherheit die zweitschlechteste von
       über 180 Ländern. Auch das Schulsystem ist ein Desaster. An öffentlichen
       Schulen wird wenig oder gar nicht unterrichtet. Die Hälfte der Bevölkerung
       kann kaum lesen oder schreiben. Unter diesen Bedingungen wollen nur wenige
       Unternehmen investieren. Vor allem der Industriesektor kommt nicht voran,
       in diesem September war die Industrieproduktion sogar rückläufig.
       
       ## Nur die Demokratie ist tadellos
       
       Umso gespannter bleibt die soziale Lage. 40 Prozent der Bevölkerung sind
       unterernährt. Allein im letzten Jahr verhungerten 1,7 Millionen Kinder
       unter sechs Jahren. 600 Millionen Menschen leben ohne sanitäre
       Einrichtungen. Besserung ist nicht in Sicht.
       
       Das alles führt zurück zu den sowohl nach der Unabhängigkeit als auch nach
       dem Fall der Berliner Mauer versäumten Reformen. Wegen der fehlenden
       Landreform kämpft die Hälfte der Bevölkerung bis heute tagtäglich ums
       Überleben.
       
       Ebenso schwer aber wiegt das Versäumnis des Aufbaus funktionierender
       Schulen und lokaler Kreis- und Stadtverwaltungen. Nach 1991 wuchsen nur
       Teile der Privatwirtschaft, deren Profite flossen nicht zuletzt ins
       politische System und verursachten viele Korruptionsskandale.
       
       Indien brauche eine Revolution, sagen nun die Gründer der neuen Partei des
       einfachen Mannes. Dabei funktioniert die indische Demokratie, was Wahlen
       betrifft, seit 1952 fast tadellos. Doch gerade dieser Erfolg hat den Indern
       den Blick auf die eigene Misere nachhaltig getrübt.
       
       2 Dec 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Georg Blume
 (DIR) Georg Blume
       
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