# taz.de -- Neue Serie: Bibliotheksbesuch: Folianten, Fäuste, Finanzdesaster
       
       > Schätze aus zehn Jahrhunderten muss die Lübecker Stadtbibliothek hüten -
       > hat aber nicht mal Geld zum Erhalt ihrer Zweigstellen.
       
 (IMG) Bild: Dem ersten gedruckten Weltatlas von 1457, geht es gut. 150.000 weitere Folianten lagern in Lübeck unter zum Teil prekären Bedingungen.
       
       „Lesen und lesen lassen“, die neue Serie der taz.nord, beschreibt
       Bibliothekszustände in Norddeutschland. Büchereien demokratisieren das
       Wissen – aber gibt ihnen die Wissensgesellschaft dafür auch die notwendigen
       Mittel? Strengen sie sich selbst genug an, um aktuelle Kommunikationsräume
       zu bleiben? Oder ist nicht sowieso schon alles im Netz?! Eine Antwort-Suche
       vor Ort in acht Stationen. 
       
       LÜBECK taz | Hier möchte man Bibliotheksdirektor sein. Das denkt, wer Bernd
       Hatscher durch herrliche Hallen voll ehrwürdiger Folianten folgt. Lesender
       Bürger langt natürlich auch – zumal man dem 47-Jährigen spätestens dann
       nicht mehr den Job neidet, wenn er dessen prekäre Rahmenbedingungen
       schildert. Also über Mangelverwaltung spricht und die Schließung von
       Zweigstellen. Wir sind in Lübeck. Und da funktioniert anscheinend alles
       nach dem bekannten Buddenbrook-Muster: alter Reichtum, steter Verfall.
       
       Zunächst aber geht es durch eine Flucht von Sälen, neogotische Gewölbe und
       barocke Räume, deren eichene Regal-Architekturen unendlich viele Folianten
       fassen. Konkreter gesagt sind es 20.000. Bände aus dem 11. bis zum 18.
       Jahrhundert, deren dicke lederne Rücken eine fast faustische Aura
       verströmen. 130.000 weitere antiquarische Werke lagern außerhalb. Diese
       bemerkenswerte Bibliothek entstand 1619 durch die Vereinigung von vier
       alten Kirchenbibliotheken, die es zusammen auf damals 1.100 Bände brachten.
       Damit war Lübeck – im norddeutschen Rahmen – so etwas wie Alexandria für
       die antike Welt. Eine Bücher-Metropole, zu der die Gelehrten pilgerten.
       
       Wem „Alexandria“ zu weit hergeholt scheint, kann auch an Augsburg denken.
       Lübeck war ein ähnlich bedeutender Druckstandort, was die historischen
       Bestände auf heute 150.000 Exemplare anschwellen ließ. Ein Großteil davon
       ist Alleinbesitz. Anders gesagt: Geht er hier verloren, gibt es nirgendwo
       Ersatz.
       
       Hatscher steht jetzt zwischen zwei uralten Globen, die die Stimmung
       allgegenwärtiger Gelehrsamkeit mit einer Anmutung antiker Abenteuerlust
       anreichern. Muss man die Unikate nicht alle scannen, in die digitale
       Ewigkeit retten? Hatscher zeigt ein müdes Lächeln. 180 Exemplare will man
       irgendwann elektronisch konservieren – sobald es dafür Stiftungsgeld gibt.
       Doch die Hauptaufgabe heißt: die Masse der Bücher in ihrer bloßen
       physischen Existenz retten.
       
       Schon in den hehren historischen Hallen herrschen keineswegs
       konservatorische Standardbedingungen. Und der weitaus größte Teil der Bände
       lagert in einer baufälligen Kaserne an der Trave – mit Fenstern, die alles
       andere als dicht sind. Gibt es eine Klimaanlage zur Regulierung der
       Luftfeuchte? Wieder lächelt Hatscher. Vorhanden sei eine alte, nicht
       regulierbare Dampfheizung: „Die macht entweder bullige Hitze – oder gar
       nichts.“ Konservatorisch erforderlich sind konstante 13 Grad.
       
       Sicher: In Lübeck ist es nicht so schlimm wie in Stralsund, wo die ähnlich
       alte Gymnasialbibliothek erst verschimmelte und dann verscherbelt wurde.
       Wobei der Schimmel erst beim Verscherbeln bemerkt wurde. Nach dem
       internationalen Protest wird in nächster Zeit kein norddeutscher
       Kommunalpolitiker wagen, Buchverkäufe vorzuschlagen. Was aber tun die
       Lübecker gegen den Verfall?
       
       „So eine Schimmelschicht würden wir schon noch mitkriegen“, sagt Hatscher.
       Mit sonstigem Treiben irgendwelcher Mikroben sähe es allerdings anders aus.
       Die wissenschaftliche Bearbeitung des wertvollen Bestands ist längst
       eingestellt, für die formale Verwaltung gibt es noch eine Teilzeit-Kraft –
       die auch anderes zu tun hat. Regelmäßige Zustandskontrollen sind unter
       diesen Umständen illusionär.
       
       Noch illusionärer ist die Errichtung eines neuen Magazin-Gebäudes,
       gemeinsam mit dem Archiv und den städtischen Museen – es würde neun
       Millionen Euro kosten. Aber: „Wir haben die Historie zu tragen“, formuliert
       Hatscher tapfer. Manchmal drückt er sich weniger vornehm aus: „Im Prinzip
       könnten wir die Wälzer sonst auch in die Trave werfen!“
       
       Es muss frustrierend sein, Schätze zu hüten, die man nicht nutzen kann.
       Doch das Trauerspiel des siechenden historischen Bestands ist nur ein Teil
       der Lübecker Bibliotheksmisere. Die andere spielt ganz im Hier und Jetzt:
       Sieben von elf Stadtteilbibliotheken wurden in den vergangenen Jahren
       geschlossen – eine finanzielle Verzweiflungstat, die das Stadtsäckel nicht
       wirklich entlastet. „Um maximal 250.000 Euro jährlich“, präzisiert
       Hatscher. Im Haupthaus sind die Öffnungszeiten drastisch eingeschränkt, die
       Wiederbesetzung frei werdender Stellen ist ausgeschlossen. So schrumpfte
       die Belegschaft seit 2002 um ein Drittel. Das bedeutet zum Beispiel:
       weniger Kooperationen mit Schulen, weniger mobile Bücherkisten, weniger
       eigene Veranstaltungen. Hatscher, wieder vornehm: „Wir arbeiten mit
       pragmatischem Minimalismus.“
       
       Seit 25 Jahren ist er Bibliothekar, von Frankfurt/Main kam er über
       Gütersloh nach Lübeck. Seine Erfahrung: „Je nördlicher, desto schwieriger
       die Arbeitsverhältnisse.“ Doch selten treffen historischer Reichtum und
       aktuelle Bedürftigkeit, ehrwürdige Altbestände und öffentliche Armut so
       krass aufeinander wie in Lübeck. Ein paar Schritte von der Bibliothek
       entfernt liegt die „Schiffergesellschaft“: eine Lokalität, deren Reichtum
       an Schnitzereien und von der Balkendecke baumelnder maritimer Modelle jeden
       Besucher umhaut. Hier verkehrten die Fernkaufleute, die Lübeck
       jahrhundertelang zur „Königin der Hanse“ machten.
       
       Heute hat die Stadt 1,3 Milliarden Euro Schulden. Genau einen davon
       erbringt der Verkauf des defizitären Flughafens – ohne Investor würde hier
       bald kein Flugzeug mehr landen. Und die kommunalen Bibliotheken? „Sind alle
       im freien Fall“, sagt Hatscher sachlich.
       
       Noch leistet die Lübecker Stadtbibliothek Bemerkenswertes: 1.000 Menschen
       kommen jeden Tag in ihre diversen Alt- und Neubauten, statistisch geht alle
       vier Sekunden ein Titel durch die Ausleihe. Bundesweit einzigartig ist ihre
       Ausrichtung am angelsächsischen Modell der Public Library, die für
       Wissenschaftler ebenso zuständig ist wie für SchülerInnen. „Wir sind eine
       bemerkenswert komische Bibliothek“, kommentiert Hatscher. Und fügt dann
       hinzu: „Täglich erleben wir Dankbarkeit für unsere Angebote.“
       
       Täglich erlebt er allerdings auch Armut. Regelmäßig müssten für
       Mahngebühren Ratenzahlungen vereinbart werden. 2,30 Euro in Raten? „Wenn
       ich es nicht selbst sähe, würde ich es auch nicht glauben“, sagt Hatscher.
       Immerhin stottern sich pro Jahr 330.000 Mahn-Euros zusammen – ein Zehntel
       des Gesamtetats. Wie bei anderen prekär finanzierten Bibliotheken macht das
       de facto den Löwenanteil der zur Verfügung stehenden Anschaffungsmittel
       aus.
       
       Trotz allem ist Bernd Hatscher niemand, der mit der Faust auf den Tisch
       schlägt. Das tut er höchstens, wenn vor ihm ein Foliant liegt – und er den
       realistischen Kern der Redewendung vom Buchaufschlagen demonstriert. Dann
       saust seine Faust so schwungvoll nach unten, dass man sich um den
       antiquarischen Band ein weiteres Mal sorgt – immerhin der erste gedruckte
       Weltatlas, 1457. Doch dessen Deckel springt tatsächlich auf, zwei Spangen
       rutschen runter. „Das Pergament war meist so wellig, dass man es zwischen
       die hölzernen Buchdeckel pressen musste“, erklärt Hatscher – dem die
       Vorführung sichtlich Vergnügen bereitet. Sie taugt zur Wissensvermittlung –
       ebenso wie zum Frustabbau. Und ohne den kann man in Lübeck schon lange
       nicht mehr Bibliothekar sein.
       
       8 Dec 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Henning Bleyl
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Architektur
       
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