# taz.de -- Bibliotheksbesuch (IV): Eine Oase in der Antarktis
       
       > Lesen im ewigen Eis: Die Bibliothek des Alfred-Wegener-Instituts in der
       > Antarktis ist der südlichste Lesesaal der Welt. Und der vermutlich
       > einzige mit einem Chirurgen als Leiter.
       
 (IMG) Bild: Hier kommt höchstens mal ein Pinguin ins Sichtfeld: der Bibliotheks-Container an der Schelfeiskante.
       
       Die taz.nord-Serie „lesen und lesen lassen“ beschreibt Bibliothekszustände
       in Norddeutschland. Büchereien demokratisieren das Wissen – aber gibt ihnen
       die Wissensgesellschaft dafür auch die notwendigen Mittel? Strengen sie
       sich selbst genug an, um aktuelle Kommunikationsräume zu bleiben? Oder ist
       nicht sowieso schon alles im Netz?! Eine Antwort-Suche vor Ort in acht
       Stationen. 
       
       Bibliothekare beschreiben ihre Häuser gern als Oasen, als unverzichtbare
       Orte der Orientierung und Wissensvermittlung. Nimmt man die aktuelle
       Bildungslandschaft als sich ausdehnende Wüste wahr, erscheint die
       Oasen-Metapher tatsächlich passend. Doch selten ist sie auch auf physischer
       Ebene so treffend wie im Fall der Bibliothek des Alfred-Wegener-Instituts
       in der Antarktis – dem südlichsten Lesesaal der Welt.
       
       Dessen Adresse lautet: 70°39’S 08°15’W. Das ist nahe der Schelfeiskante im
       nordöstlichen Weddell-Meer. Wer also über die Notwendigkeit der physischen
       Existenz von Bibliotheken nachdenkt, sollte dies auf dem Ledersofa mitten
       in der Eiswüste tun, über sich die Leselampe und vor sich ein Fenster, von
       dem aus man Schneestürme kontemplieren kann. Nicht zu vergessen der warme
       Teppich und Kirschholzregale, deren Inhalte einem sehr spezifischen
       bibliothekarischem Ordnungssystem folgen: der Fokussierung auf den Ort, an
       dem sie stehen.
       
       Der Bibliotheks-Container im ewigen Eis gehört dem Bremerhavener
       Alfred-Wegener-Institut (AWI). Neun Mitarbeiter der
       Polarforschungs-Einrichtung überwintern jedes Jahr in der Antarktis, um
       Daten zu sammeln: Neun Monate, während derer es keinerlei Möglichkeit gibt,
       zwischendurch in die Zivilisation zurückzukehren. Nur im Sommer schafft die
       „Polarstern“, der Eisbrecher des AWI, den Weg in die Atka-Bucht.
       
       Als die „Polarstern“ 2004 an der Schelfeiskante anlegte, hatte sie neben
       den üblichen Unmengen an Treibstoff, technischer Ausrüstung und
       Lebensmitteln noch einen besonderen Container an Bord: die Bibliothek. Ihr
       Initiator, der Kölner Künstler Lutz Fritsch, ließ sie in einiger Entfernung
       zur Forschungs-Station absetzen, mitten ins weiße Nowhere. Seinerzeit war
       sie der einzige oberirdische Raum der Neumeyer-Station. „ein Raum voller
       Bücher im Angesicht des Horizonts“, wie Fritsch sagt.
       
       Er ist bekannt für seine farbigen Open-Air-Skulpturen, die er als urbane
       Orientierungsmarken versteht. In diesem Fall hat er eine
       Open-Ice-Installation geschaffen. Tatsächlich wird, mitten in die
       landschaftliche Maßstabslosigkeit der Antarktis gesetzt, selbst so etwas
       Schlichtes wie ein Container zur spannenden Skulptur. Zumal, wenn er rundum
       in verschiedenen Grün-Tönen angestrichen ist. Grün sei „die
       Sehnsuchtsfarbe“, sagt der Künstler. Unbestreitbar ist sie jedenfalls die
       Farbe, die den im Eis lebenden Wissenschaftlern fast vollständig fehlt.
       Deren Overalls sind rot, die Versorgungskisten blau, frisches Grün
       verschwindet spätestens nach sechs Wochen von den Tellern.
       
       Fritsch hat nicht nur eine weithin leuchtende Landmark geschaffen, sondern
       auch eine real nutzbare Bibliothek mit Platz für 1.000 Bücher. Wie aber
       wählt man die Werke aus, wenn nur ein 20-Fuß-Container zur Verfügung steht?
       Wie füllt man den kostbaren Raum, der mit Hilfe einer speziellen Isolierung
       dem Eis abgetrotzt ist? Fritsch lässt stiften. Bislang hat er weit über 600
       Künstler und Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen angeschrieben und
       gebeten, Bücher für diesen speziellen Ort auszuwählen. Ganz wichtig sei die
       dazugehörige Widmung, sagt Fritsch: ein Statement, warum sie ausgerechnet
       dieses Buch in dieser existentiellen Situation zur Lektüre empfehlen.
       
       „Die Widmungen werden von den Überwinterern wahnsinnig ernst genommen“, hat
       Fritsch beobachtet. Bücher ohne persönliche Erläuterung würden meist gleich
       wieder ins Regal zurück geschoben.
       
       Manche Nutzer durchsuchen die Stifter-Liste, andere das Titelverzeichnis.
       Wo das gewünschte Buch dann steht, muss allerdings individuell gefunden
       werden – das ist Teil der Bibliotheks-Philosophie. „Ich wollte keine
       Nummern aufkleben“, sagt Fritsch. Außerdem entspreche es der Mentalität der
       Forscher, auf Entdeckungsreise zu gehen. Ein Ordnungs-Kriterium existiert
       allerdings doch: „Oben stehen die dünnen, unten die dicken Bücher.“
       
       Fritsch war seit den 90ern mehrmals in der Antarktis. Mit den Forschen und
       Technikern habe er oft über den Stellenwert von Kunst und Kultur in einem
       persönlich so fordernden Umfeld wie der Eiswüste diskutiert, sagt Fritsch.
       „Mir wurde immer gesagt: Hier braucht man keine Kultur.“ Seine Antwort ist
       die Bibliothek.
       
       Deren Inhalt ist eine einzigartige Mischung, geschuldet der Fritsch’schen
       Akquisitions-Methode. Ein großer Teil besteht aus Belletristik aller Art,
       daneben gibt es reichlich Rara. Ein uraltes „Petzi am Nordpol“-Heft, ein
       dickes Scheidungsrecht von 1965. Dessen Stiftung sei „ein bisschen
       makaber“, meint Fritsch – realistisch ist sie allemal. Nicht alle
       Beziehungen überleben ihre Auf-Eis-Legung. Der konzeptionelle Kniff der
       Scheidungsrechts-Donation liegt freilich in der hoffnungslosen Überholtheit
       des juristischen Ratgebers. „Den Spender hat der Grenzbereich zwischen
       Realität und Fiktion interessiert“, sagt Fritsch, „und darin die Frage: Was
       heißt trennen?“ Abgelehnt hat Fritsch bislang nichts.
       
       Der Bibliothekar vor Ort ist, von Amts wegen, ein Chirurg. Denn der darf
       bei keiner Überwinterung fehlen, neben Notoperationen ist er eben auch für
       die Bücher verantwortlich. Inklusive einer strengen Inventur am Ende jeder
       Saison. „Bislang haben wir noch kein Buch verloren“, sagt Fritsch.
       
       Als er das erste Mal im Eis war, gab es noch keine Mailverbindungen. Eine
       Faxseite kostete 85 Mark. Stellt die seitherige technische Entwicklung
       nicht die Notwendigkeit seiner Bibliothek in Frage? Fritsch verneint:
       „E-Books sind für sie keine Konkurrenz.“ Die Lektüre am Laptop im engen
       Multifunktionszimmer sei keine wirkliche Alternative – vor allem nicht,
       wenn man bereits den ganzen Tag einen Bildschirm vor der Nase hatte. Im
       Kern geht es Fritsch freilich um den Ort an sich: Die regelmäßige Einkehr
       in die Bibliothek sei für viele Polarforscher unverzichtbarer Teil ihrer
       Überwinterungs-Strategie geworden.
       
       Früher wurden in Bibliotheken Expeditionen geplant. Weißfleckige Karten
       konsultiert, unvollständige Globen gedreht, vorhandenes Wissen mit
       Forschungsvorhaben abgeglichen. Und, bei glücklicher Rückkehr, neues Wissen
       in ihnen verewigt. Fritschs Bibliothek hingegen ist unsystematisch.
       Wissenschaftlich vielleicht sogar, im engeren Sinn, unnütz. Dafür steht sie
       am Schauplatz des Abenteuers selbst. Als temporärer Rückzugsort, der den
       Mensch im Wissenschaftler stärkt.
       
       6 Feb 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Henning Bleyl
 (DIR) Henning Bleyl
       
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