# taz.de -- 200 Jahre Grimm-Märchen: Die Sonne lächelt den Faulpelzen
       
       > Seit 200 Jahren gibt es die „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm.
       > Dass dort auch die Faulheit Belohnung findet, wissen freilich nur
       > fleißige Leser.
       
 (IMG) Bild: Erst schläft die Alte 100 Jahre – und dann kriegt sie auch noch den Traumprinzen.
       
       BERLIN taz | Am 20. Dezember 1812 erschien in Berlin der erste Band der von
       Jacob und Wilhelm Grimm gesammelten „Kinder- und Hausmärchen“ (KHM). 86
       Geschichten, darunter Schwank- und Tiermärchen – auf die legten die Brüder
       beim Sammeln besonderen Wert –, sowie jede Menge Zaubermärchen.
       
       Zaubermärchen sind solche, in denen Wunder passieren, „Aschenputtel“ zum
       Beispiel oder „Dornröschen“ und „Frau Holle“. Kurz: Fast alle Geschichten,
       die uns einfallen, wenn uns jemand nach Grimms Märchen fragt.
       
       Viel wurde den Märchen der Brüder Grimm vorgeworfen in den letzten 200
       Jahren. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie sogar als vermeintliches
       Saatgut im kollektiven Unbewussten der Deutschen für die Verbrechen des
       Nationalsozialismus verantwortlich gemacht.
       
       Noch heute erzählen manch wohlmeinende Eltern ihren Kindern sogenannte
       versöhnliche, antiautoritäre Versionen. Im Regionalzug nach Schwedt hab ich
       mal gehört, wie ein Vater seinen Kindern erzählte, dass der Wolf, nachdem
       er die Geißlein gefressen hat, nicht mit Steinen im Bauch in den Brunnen
       geworfen wird. Nein. Die alte Geiß schaufelt ihm den Blumenkohl in den
       Leib, den sie auf dem Markt gekauft hat, während der Fleischfresser ihre
       Kinder verspeiste.
       
       ## Das Böse lebt unter uns!
       
       Und am Ende verspricht der Wolf, es nie wieder zu tun. Genau. Und dieselben
       Leute, die so was ihren Kindern erzählen, gucken jeden Sonntag „Tatort“,
       bis alle Bösen eingefangen und weggesperrt sind, bevor sie beruhigt
       schlafen gehen. Die Märchen dagegen sind die Horrorgeschichten, in denen
       das Böse nicht bestraft wird, sondern mitten unter uns lebt!
       
       Ein anderer Vorwurf ist der, die Märchen würden ein neoliberales
       protestantisches Weltbild propagieren. Die Fleißigen seien immer schön und
       herzensgut und würden am Ende reich belohnt; während die Faulpelze stets
       hässlich und böse sind und demzufolge ihrer Strafe nicht entkommen. Denkt
       man. Auf den ersten Blick. Gönnt man sich die Freude, die Texte mal wieder
       und genauer zu lesen, dann erscheint vieles in anderem Licht.
       
       Eines der berühmtesten Zaubermärchen ist „Der Froschkönig“ oder „Der
       eiserne Heinrich“, das in allen Ausgaben immer an erster Stelle stand. Es
       beginnt ab der dritten Auflage mit den Worten: „In den alten Zeiten, wo das
       Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle
       schön, aber die jüngste war so schön, dass die Sonne selber, die doch so
       vieles gesehen hat, sich verwunderte, sooft sie ihr ins Gesicht schien.“
       (In meiner persönlichen Liste der schönsten ersten Sätze der
       Literaturgeschichte wird dieser immer einen Platz unter den ersten zehn
       haben.)
       
       ## Trotz führt zum Traumprinzen
       
       Dieses Märchen nun ist die Geschichte einer wenn auch sehr hübschen, so
       doch ziemlich verzogenen jungen Frau, die am Ende ihren Prinzen bekommt,
       weil sie sich dem Willen ihrer männlich dominierten Umwelt – vertreten
       durch Vater und Frosch – tatkräftig widersetzt und die Amphibie an die Wand
       schmeißt.
       
       Ein Benehmen, das man nicht unbedingt als einer Prinzessin würdig
       bezeichnen kann. Man könnte den „Froschkönig“ im Gegenteil als Märchen über
       weibliche Selbstbestimmung und Emanzipation lesen, gegen
       Obrigkeitshörigkeit und für selbstbestimmtes Handeln.
       
       Ein anderes Beispiel: Es wird enorm viel gesponnen bei den Grimms. Die
       Garnherstellung – ob aus Stroh, Flachs, Wolle oder Menschenhaar – ist die
       in allen Geschichten am häufigsten ausgeübte Arbeit. Beziehungsweise die am
       häufigsten verweigerte Arbeit. Das „Faule und Träge“, schreibt Wilhelm
       Grimm in den Anmerkungen zur großen Auflage letzter Hand von 1857, sei eine
       „dem Menschen angeborene Neigung“, die besonders gern geschildert und „bis
       zur höchsten Spitze getrieben“ werde.
       
       So zum Beispiel in KHM 14, „Die drei Spinnerinnen“, im Folgenden
       nacherzählt: Ein Mädchen war faul und wollte nicht spinnen. Wie die Mutter
       es schalt, fuhr draußen in der Kutsche die Königin vorbei, die es hörte,
       ausstieg und nach dem Grund fragte.
       
       ## Die Mutter musste lügen
       
       Die Mutter schämte sich der Faulheit ihrer Tochter und log: „Ich kann sie
       nicht vom Spinnen abbringen, sie will immer und ewig spinnen, und ich bin
       arm und kann den Flachs nicht herbeischaffen.“ Die Königin nahm das Mädchen
       mit auf ihr Schloss, zeigte ihm drei Kammern voll Flachs und versprach ihm
       die Hand ihres Sohnes, sobald die Kammern leer wären: „Bist du gleich arm,
       so acht ich nicht drauf, dein unverdrossner Fleiß ist Ausstattung genug.“
       Das Mädchen rührt keinen Finger, sondern setzt sich ans Fenster und heult.
       
       Da gehen unten drei Weiber vorbei. Die erste mit einem Platschfuß, die
       zweite mit riesiger Unterlippe, die dritte mit einem breiten Daumen. Wenn
       das Mädchen sie auf der Hochzeit als seine Basen vorstellen wolle, dann
       würden sie ihr helfen. Gesagt, getan. Auf der Hochzeit wundert sich der
       Prinz über die merkwürdige Verwandtschaft seiner Braut. Er fragt die drei
       nach dem Ursprung ihrer Deformationen.
       
       Da sagt die Erste: „Vom Treten“, die zweite: „Vom Lecken“ und die dritte:
       „Vom Fadendrehen.“ Und um dasselbe Schicksal von seiner schönen Braut
       abzuwenden, verbietet er ihr, jemals wieder ein Spinnrad anzurühren. Und
       „damit“, so schließt die Geschichte, „war sie das böse Flachsspinnen los.“
       Nicht mal die Kuppe eines moralischen Zeigefingers ist hier zu finden.
       Stattdessen nur sanfte Ironie und große Erzählfreude.
       
       Es gibt eine andere Version der Geschichte nach einer Erzählung von
       Jeanette Hassenpflug, die aber nur in der ersten Auflage der KHM an dieser
       Stelle veröffentlicht wurde. Darin hat der König eine Art
       Flachsspinn-Fetisch, er mag das Schnurren des Spinnrads so.
       
       ## Ungehörigkeit gegenüber dem König
       
       Als er zu einer Reise aufbricht, lässt er seinen drei Töchtern einen Berg
       Flachs da, der fertig gesponnen sein soll, wenn er wiederkommt. Um die
       Prinzessinnen vor dieser Arbeit zu retten, bestellt die Königin die drei
       bemerkenswerten Weiber aufs Schloss, denen sie vorher die Antworten
       vorsagt, die sie dem König geben sollen.
       
       In dieser Erstfassung des Märchens „Von dem bösen Flachsspinnen“ wird die
       Faulheit überhaupt nicht thematisiert, sondern im Gegenteil die
       Ungehörigkeit der Forderung des Königs markiert. Schließlich ziemt es dem
       Hochadel nicht, einfache Handarbeiten zu erledigen. Und wohin das führen
       kann, sieht man ja an Dornröschen.
       
       Die hat nur mal eine Spindel berührt und versetzte damit ein ganzes Land
       ins Koma. Nein! Prinzessinnen sollen nicht arbeiten, sondern an
       Brunnenrändern sitzen und mit goldenen Kugeln spielen. Demzufolge scheint
       es auch nur logisch, dass das faule Mädchen am Ende Königin wird,
       schließlich ist die Faulheit offensichtlich die wahre Tugend des Adels.
       
       Die erste Version hat aber auch inhaltliche Mängel: Wenn der König das
       Geräusch des Spinnens so mag, wieso soll das Garn dann fertig sein, wenn er
       zurückkommt? Dann hat er ja gar nichts davon! Außerdem ist die dramatische
       Fallhöhe viel niedriger. Die Prinzessinnen haben nur Sorge um ihre
       reichlich vorhandene Freizeit, für das Mädchen geht es um alles oder
       nichts. Man kann also ohne Übertreibung sagen, dass die endgültige Version
       die bessere ist.
       
       ## Historische Quellensuche
       
       „Hätte Wilhelm Grimm der struppigen Volkspoesie nicht schlichte, aber eben
       angenehm wirkende Zöpfe geflochten, dann hätte sich noch auf Jahrzehnte hin
       kein Mensch um diese Schätze der Volksliteratur gekümmert; nur so konnte
       damals der Durchbruch geschaffen werden, dass sich bürgerliche und
       gutbürgerliche Kreise um die Literatur der sogenannten unteren Schichten
       plötzlich kümmerten und sogar begeisterten“, so der Märchenforscher Heinz
       Rölleke, der sich wie kein anderer im Wald der Grimm’schen Märchen
       auskennt.
       
       Die Grimms waren die Ersten, die die bis dahin als minderwertig verachtete
       Gattung Volksdichtung ernst nahmen und ihr sogar wissenschaftliche
       Ehrfurcht entgegenbrachten. Der dritte Band der von Rölleke
       wiederveröffentlichten Gesamtausgabe besteht ausschließlich aus den
       ausführlichen Originalanmerkungen Wilhelm Grimms zu Herkunft, Variation und
       Verbreitung jedes einzelnen der zweihundert Märchen sowieso Röllekes
       Anmerkungen zur Editionsgeschichte.
       
       Es ist kein Zufall, dass die Grimms anders als bei ihrem berühmten
       Wörterbuch nie das Attribut „deutsch“ auf ihre Märchensammlung schrieben.
       Ihre Forschung erstreckte sich nicht nur auf Dichtungen der meisten
       europäischen Nationen und die großen Erzählungen des Orients, die in
       einzelnen Kapiteln ausführlich diskutiert werden, es finden sich auch
       respektvolle Bemerkungen über die Erzähltraditionen der nordamerikanischen
       und der afrikanischen Ureinwohner.
       
       Das Zeitalter der Romantik war der Suche nach dem Ursprünglichen
       verschrieben. Und zwar im Sinne einer historischen Quellensuche, die wenig
       mit Kitsch und Biedermeier zu tun hatte. Die Märchen- und Liedersammlungen
       jener Zeit waren zuallererst Ergebnisse akribischer literaturhistorischer
       und archäologischer Forschungsarbeit.
       
       Die „Kinder- und Hausmärchen“ gehören seit 2005 zum Unesco-Weltkulturerbe.
       Die Brüder Grimm gelten nicht von ungefähr als Mitbegründer der Philologie,
       der Wissenschaft von der Sprache und Literatur und ihren Ursprüngen.
       
       ## Heinz Rölleke: „Die Märchen der Brüder Grimm. Eine Einführung“. Reclam
       Verlag, Ditzingen, 2012, 117 S., 4 Euro
       
       17 Dec 2012
       
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