# taz.de -- Die Wahrheit: Pfeifen im Walde
       
       > Martin Walsers Tagebuch gefunden! Nussdorf, Meppen, St. Blasien.
       
 (IMG) Bild: Auf der Suche nach dem verlorenen Tagebuch hat Martin Walser einen neuen Roman gefunden.
       
       Immer noch sucht Martin Walser nach seinem verlorenen Tagebuch. Der
       85-jährige Schriftsteller hatte es während einer Zugfahrt von Innsbruck
       nach Friedrichshafen auf dem Sitz liegen lassen. Dort wurde es auch
       gefunden und inzwischen der Wahrheit zugespielt, die nun Auszüge aus dem
       Alterswerk des vergesslichen Künstlers veröffentlicht. 
       
       Mai, Nussdorf, am Bahnhof 
       
       Günter kommt zu Besuch. Lange nicht gesehen. Die Verspätung des Zuges gibt
       mir die Gelegenheit, mich zu sammeln, zu besinnen, zu finden, bevor wir uns
       im erregten Redeschwall ineinander verlieren. Günter trägt den Wunsch im
       Gepäck, eine Bodenseefahrt zu machen. Schlage die „Hohentwiel“ vor, sie
       bietet Dixieland-Fahrten an.
       
       Käthe hatte vorgeschlagen, zur Mainau zu fahren, aber mein Knie bereitet
       mir ein rechtes Problem. Außerdem gilt es diese Touristenhaufen, diese
       bunten Grüppchen mit ihren Klingeln am Gehstock zu vermeiden. Also wird es
       wohl auf zwei Männer in einem Boot mit Jazz hinauslaufen. Freue mich, denn
       die Felchen sind zur Zeit besonders schmackhaft.
       
       Mai, Meppen 
       
       Das Maienkleid mit seinem zarten Blümchenmuster scheint dieses Jahr noch
       lieblicher als sonst. Der überraschende Bodenfrost der letzten Nächte hat
       die Blüten noch einmal innehalten lassen, auf dass sie sich nun ganz
       langsam, einem jungen Mädchen ihrem ersten Freund gegenüber gleich,
       entfalten. Stolz stehen die Maibäume vor den Gaststätten, prächtiges junges
       Geäst, in dem die bunten Bänder fröhlich flattern wie die Kräfte der
       Jugend. Gutes Bild: Maibaum als Symbol der kraftstrotzenden und dennoch
       verletzlichen Jugend. Vielleicht für „Echtzeitlose“ verwenden. Oder als
       kurzes Bild in meiner Novelle „Die Krähe vor dem Oktober“.
       
       Juni, daheim 
       
       Habe schon wieder Ärger mit Steinfeld, diesem Hornochsen von der
       Süddeutschen. Habe ihm eine Eloge auf die Ästhetik des Beachvolleyballs
       verfasst, und er druckt sie nicht. Sie liegt nun schon seit vierzehn Tagen
       auf seinem Tisch. Er meint, das könne man so nicht machen, das sei kein
       Text fürs Feuilleton, weil die Körper im Mittelpunkt stünden, nicht die
       Kunst. Da sieht man das Verquere in den Hohlköpfen, die heutzutage die
       Feuilletons bevölkern und „Kunst“ und „Körper“ trennen!
       
       Ich habe sie doch vor Augen, wenn sie hier trainieren, diese jungen
       Athletinnen! Mit Körpern geschmeidig wie Großkatzen. Wie sie lauern, wie
       sie jeden Muskel anspannen, das Gegenüber im Blick gefangen. Kein
       Muskelzucken entgeht ihren auf die Andere gerichteten Augen. Jedes Zucken,
       jedes Flackern registrieren sie, um daraus den Angriff abzuleiten, die
       Technik des Wurfs zu bestimmen.
       
       Und wie sie sich selbst hineinwerfen in das Spiel, wie sie ihren Körper
       über seine physikalischen Grenzen hinaustragen, wie sie ihn in ungeahnte
       Höhen schwingen, um den Ball unannehmbar im Feld der Gegnerin zu
       platzieren! Sie, die Verschwörungsmeisterinnen mit ihrem Fingeralphabet.
       
       Und dann dieser eine Moment, den ich den „Königinnenmoment“ nenne. Dieser
       kurze Augenblick der Weiblichkeit. Wenn der Angriff vorbei ist und die
       Konzentration nur für Sekunden weicht. Wenn aus dem Athletinnenkörper ein
       Frauenkörper wird. Weich und rund. Warm und einladend. Nachgiebig und
       sanft.
       
       Wenn für diesen kurzen Moment nur die Anspannung weicht und eine Brust
       wieder eine Brust ist, ein Schenkel wieder ein Schenkel. Weil er die
       Spannkraft zugunsten einer Sanftheit verliert, die einen einsaugen und in
       der Gänze umschließen will … Ich werde meinen Verleger anrufen, der soll
       mit dem Kister sprechen. Ich lass mir doch nicht von so ’nem
       Feuilletonfritzen meinen Text kaputt machen.
       
       Musste Reise nach Denver absagen, der Magen.
       
       Juni, im Zug nach St. Blasien 
       
       Farbenwechsel. Ich muss meinen Füllfederhalter zu Hause liegen gelassen
       haben. Statt in sattem Schwarz muss ich nun in trübem Blau meine Zeilen
       füllen. Auch vor meinem Auge vollzieht sich jetzt ein Wechsel der Farben.
       Führte mich der Zug eben noch über satte, sommergrüne Wiesen, über denen
       der blaue Himmel sich bog, bringt er mich jetzt hinein in das dunkle
       Tannengrün des Waldes, auf dem das Blau wie ein Dach liegt.
       
       Überlege, doch noch etwas zum Jubiläum der Märchen der Gebrüder Grimm zu
       verfassen. Deutschland wird immer ärmer an Gedanken und an Denkenden. Es
       gibt nicht mehr viele, die wie ich, den Scherenschleifer, der dem Hans die
       Gans abschwatzte, noch erlebt haben. Und in den Brunnen, der zu Frau Holle
       führt, habe ich noch hinabgeschaut. Und durch die Wälder, durch die Hänsel
       und Gretel irrten, bin ich noch pfeifend gegangen.
       
       Die Märchen, diese wunderbaren Märchen sind unser ältestes Testament. Wem
       nützt ein Apparat in der Hand, der sprechen kann, wenn die Inhaltslosigkeit
       sich wie ein Gewürm durch die Köpfe frisst? Wem nützt das Geld, das als
       Zahl an den Wänden der Wall Street aufflackert, wenn doch die Gemüter, die
       Geister, die Seelen der Menschen heute so arm sind?
       
       12 Dec 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Silke Burmester
       
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