# taz.de -- Wissenschaft und Wissenschaftskritik: Das Ding mit dem Tod
       
       > Vom Glauben an die Unsterblichkeit: Warum die Wissenschaft in unserer
       > Epoche das Erbe der Religion angetreten hat.
       
 (IMG) Bild: Nicht das Ende, sondern ein Übergang. Das jedenfalls glaubten bislang alle Gesellschaften.
       
       Das Paradies verändert sich, wie die Menschen. Selbst da, wo sich die
       Mitglieder einfacher Gesellschaften nur über ihre Sippe begriffen haben, wo
       das Konzept der Individualität noch einem Todesurteil gleichkam, weil der
       Einzelne die Gruppe zum Überleben benötigte, selbst hier existieren
       Vorstellungen von einem Leben nach dem Tod. Manchmal sind diese
       Vorstellungen nur im übertragenen Sinne ein Paradies. Aber ihre
       Beschaffenheit bleibt ähnlich.
       
       Heute verheißt die Forschung das ewige Leben. Den Nobelpreis für Medizin
       erhielt zuletzt der Japaner Shinya Yamanaka, weil es ihm gelang, „die Uhr
       zurückzudrehen“, wie ein Wissenschaftsblog Yamanakas Erfolge beschrieb,
       reife Zellen in pluripotente Stammzellen zu verwandeln. Aus diesen ließen
       sich alle Zellen gewinnen. „Das Backrezept für Unsterblichkeit“, mutmaßte
       die Zeit.
       
       Für Genetiker ist der Mensch reine Information. Replizierbare Information
       bedeutet dann Unsterblichkeit. Wie religiös ist der Glaube daran, die
       Wissenschaft werde den Tod zu einer manipulierbaren Variable machen?
       
       „Waren einst für die Ausrottung aller Leiden Schamanen und Wunderheiler
       zuständig, so sind es heute Molekularbiologen und Genetiker; und von der
       Unsterblichkeit sprechen nicht mehr die Priester, sondern Forscher“,
       schrieb Hans Magnus Enzensberger zur Entschlüsselung des Genoms 2001.
       
       Womöglich versteckt sich die zeitgemäße Vorstellung von einem Weiterleben
       nach dem Tod im herrschenden Glauben an den Fortschritt. Ist der
       Fortschrittsglaube also die säkulare Variante religiöser
       Unsterblichkeitsvorstellungen?
       
       Wieso, fragte sich der Soziologe Emile Durkheim 1912, glaubten Menschen
       bislang in allen Gesellschaftsformen daran, dass mit dem Ende des Lebens
       nur ein Übergang markiert sei? Wieso gingen sie von einem Weiterleben nach
       dem Tod aus? Durkheim interessierte sich nicht für die unterschiedlichen
       Formen, in denen Religion ihren rituellen und institutionellen Ausdruck
       findet. Es ging ihm nicht um Kirchen, sondern um den Ursprung des
       Phänomens.
       
       Wieso also kamen schon die Ureinwohner Australiens auf den Gedanken einer
       heiligen Welt, die in kategorialer Gegensätzlichkeit zur ihrer
       tatsächlichen Welt gedacht war? Aus irgendetwas musste sich diese
       Vorstellung ja speisen.
       
       ## Intellektuelle Weiterentwicklung von Fell und Axt
       
       Durkheim vermutete, dass es die Gesellschaft selbst war, die bei den
       einzelnen Mitgliedern diese Ehrfurcht einflößte. Die Transzendenz des
       Gefühl des Zusammenhalts. Das Urreligiöse, ob Gott, Götter oder Paradies,
       wäre dann die Abstraktion der Gesellschaft als ganzer.
       
       Die beiden Religionssoziologen Peter L. Berger und Thomas Luckmann
       entwickelten Durkheims Gedanken weiter. Sie suchten nach der Funktion von
       Religion für den Menschen. Der Mensch sei mangels Instinkte genötigt, seine
       eigene Welt zu konstruieren. Der Mensch sei ein Kulturwesen und müsse sich
       eine soziale Wirklichkeit erschaffen, um zu überleben. Der Mensch benötige
       ein Koordinatensystem aus Normen, Werten und Institutionen, über das er
       sich seine Umwelt erschließen könne. Ein System sozialen Sinns. Die
       intellektuelle Weiterentwicklung von Fell und Axt.
       
       Das Koordinatensystem der sozialen Wirklichkeit, in das neue Generationen
       geboren würden, erscheine dabei als gegeben, gleichsam eine Folge von
       Naturgesetzen, so meinten Berger und Luckmann. Nur durch diese Fiktion
       könne diese Konstruktionsleistung ihre Funktion erfüllen: Stabilität und
       Ordnung für ein Lebewesen zu schaffen, das kein angeborenes Verhalten für
       die Reize seiner äußeren Umwelt mit auf den Weg bekam. Im Verlauf der
       Sozialisation eigneten sich die Individuen diese von außen kommende
       „Weltsicht“ als ihre Sicht an, die ihnen dann helfe, die Umwelt zu
       erfassen. Diese Schnittmenge von Individuum und Gesellschaft sei
       verantwortlich für den Ursprungsimpuls aller Religion.
       
       Religion, schrieb Berger 1973, „gibt den zerbrechlichen Wirklichkeiten der
       sozialen Welt das Fundament eines heiligen realissimum, welches per
       definitionem jenseits der Zufälligkeit menschlichen Sinnens und Trachtens
       liegt“.
       
       Religiöse Vorstellungen erschaffen eine Ordnung, die unhinterfragbar sein
       soll. Deswegen gilt vielfach auch das Chaos als Widerpart des Guten und
       Heiligen. Religion als Antwort auf die Suche nach einer letztendlichen
       Gewissheit.
       
       Heute leistet diese Orientierungsfunktion die Wissenschaft. Selbst wenn
       technische Systeme versagen oder Theorien scheitern: abgelöst werden sie
       nur von anderen technischen Systemen, von anderen Theorien; nie von einem
       gänzlich anderen System, das die Dominanz von Wissenschaft infrage stellen
       könnte.
       
       Die Wissenschaft hat eine Monopolstellung. Sie kann als einzige ernsthaft
       für sich die Deutung der Welt beanspruchen. So konkurrenzlos wie einst die
       katholische Kirche. Deswegen ist auch der Glaube an den Fortschritt zu
       einem unhinterfragten Hintergrundrauschen geworden. Wir verhalten uns so,
       als sei er eine Gewissheit. Anders wird der selbstzerstörerische Umgang mit
       der Welt kaum begreiflich.
       
       „Die noch unentzifferte Glaubensgeschichte der modernen Welt ist von der
       Wissenschaft im Namen der Wahrheit geschrieben und damit eben auch verhüllt
       worden: Sie ist als Glaubensgeschichte unkenntlich“, schrieb der Soziologe
       Friedrich Tenbruck 1989. Er meint: „Nach ihrer Idee, obschon nicht durchweg
       in ihrer Praxis, erfüllt die Wissenschaft gewisse Anforderungen des
       universalistischen Wahrheitsbegriffs […] indem sie nämlich ein genaues, mit
       letzter Gewissheit begründbares Wissen für alle sucht.“
       
       Den Fortschrittsglauben der Aufklärung interpretieren Religionssoziologen
       noch als Folge des unmittelbar erlebten Aufstiegs der Bourgeoisie. Aber die
       Hoffnung auf den Fortschritt verknüpft sich bereits hier mit der
       Vorstellung von Unsterblichkeit. Denn das Fortschrittskonzept selbst speist
       sich aus theologischen Quellen.
       
       Der Historiker Reinhart Koselleck verortet es in der Enthüllung der
       Apokalypse, die sich fortschreitend offenbare: „Mit jeder neuen Deutung und
       Applikation nähere man sich […] der letzten und damit endgültig wahren
       Deutung, die dem Weltende vorausgehe.“ Allerdings ist im christlichen
       Glauben der Fortschrittsbegriff nicht historisch gedacht. Denn er bleibt
       auf sein Ziel ausgerichtet: die Vereinigung mit Gott. Später jedoch wird
       gerade die Reformation zu einer Schwungfeder, die der Idee des Fortschritts
       Impulse gibt.
       
       ## Kulturelle Überformung des Todes
       
       Seit dem 18. Jahrhundert, so Koselleck, habe sich der Fortschrittsbegriff
       schließlich als innerweltliches Geschehen verselbstständigt. So leitet Kant
       aus dem reinen moralischen Glauben ein überzeitliches Ziel des Fortschritts
       ab: das Streben des Menschen nach Vollendung. Auch der Neue Mensch, der von
       kommunistischen Utopien geboren wird, ist ein Resultat dieser Vorstellung
       des Fortschritts.
       
       Die kulturelle Überformung des Todes spielt für alle Formen von Religion
       eine zentrale Rolle. In der säkularen Gesellschaft verlieren konkrete
       Weiterlebensvorstellungen, die dogmatisch von der Kirche getragen wurden,
       das Paradies im Jenseits etwa, ihre Plausibilität. Doch der Tod existiert
       als Problem fort.
       
       Mit der heutigen Konzeption der Fortschrittsidee werden aber alle Probleme
       der Menschheit zu Problemen auf Zeit, die mit weiteren Fortschritten lösbar
       werden. Der Fortschritt ist zum Heilsplan geworden.
       
       Max Scheler bezeichnete den Fortschrittsgedanken als „das moralische
       Wertkorrelat, als ’Surrogat‘ für ewiges Leben“. Er meinte „den Fortschritt
       ohne Ziel, ohne Sinn – den Fortschritt, in dem das Fortschreiten selbst der
       Sinn des Fortschritts wird“.
       
       12 Jan 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Kai Schlieter
 (DIR) Kai Schlieter
       
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