# taz.de -- Konzept Reformpädagogik: Bildungsprediger in der Krise
       
       > Reformpädagogen predigen die Nähe zum Schüler. Aber was heißt Beziehung
       > ganz konkret? Anmerkungen zur pädagogischen Schönfärberei.
       
 (IMG) Bild: Aber was bedeutet denn Nähe, wenn man als Lehrer innerhalb eines Tages mehrere Dutzend Lernende betreuen muss?
       
       In Deutschland gibt es eine alte Tradition von Bildungspredigern. Besonders
       die selbsternannten Reformpädagogen – sei es Gustav Wyneken, Paul Geheeb,
       Hermann Lietz oder wie sie alle heißen – beherrschen die Kunst der schönen
       Rede, die vor allem eine Kunst der apodiktischen Feststellungen ist. In
       einem [1][Spiegel-Online-Interview], das vor zwei Jahren gegeben wurde und
       nichts an Aktualität eingebüßt hat, meldete sich der populäre
       Reformpädagoge Remo Largo zu Wort.
       
       Wieder einmal spricht er vom Fehlen emotionaler Bindung oder auch Beziehung
       im Klassenzimmer. Das sei die Ursache der allgegenwärtigen Misere der
       schulischen Wirklichkeit. Ferner stellt er fest, dass Lehrer und Schüler in
       Welten zu Hause wären, die einander fremd seien. Die Lehrer seien in der
       Handhabung der virtuellen Welten ihren Schülern hoffnungslos unterlegen,
       und dies liefe auf einen Verlust ihrer Glaubwürdigkeit hinaus. Eine
       eigenwillige Deutung für das Scheitern der Pädagogen.
       
       Kindern auf Augenhöhe zu begegnen bedeutet für mich, dass man bereit ist,
       die Denkstrukturen der Kinder mit dem Maßstab der Kinder zu messen, sich
       also darum bemühen muss, die bereits vorhandenen Schemata der Kinder zu
       erkennen. Wer dies nicht kann, wird nicht in der Lage sein, in einen Dialog
       mit den Kindern einzutreten und kreative Lernprozesse zu verwirklichen.
       
       Dies alles ist wirklich nicht neu. Über die Stofffülle hat beispielsweise
       [2][Martin Wagenschein] sehr viel konkreter, zielgerichteter nachgedacht
       als die heutigen Apologeten der Reformpädagogik. Wagenschein möchte die
       Stofffülle auf das „Exemplarische“ reduzieren und gibt hierzu auch eine
       Fülle konkreter Beispiele.
       
       Ähnliche praktische Auseinandersetzungen für besseres Lernen vermisst man
       in den Debatten über Bildungsprozesse. Stattdessen herrscht viel Ideologie.
       
       ## „Beziehung im Klassenzimmer“
       
       Seit Ellen Keys „Jahrhundert des Kindes“ vor über hundert Jahren wird
       „Beziehung“ als Indikator für eine gute Pädagogik beschworen. Die
       Reformpädagogik hat sich stets darauf berufen. Doch was heißt Beziehung
       eigentlich ganz konkret? Viele deutsche Reformpädagogen schmücken sich mit
       diesem Attribut und halten es nicht für nötig, es zu definieren. Es ist,
       als könnte ein Arzt damit davonkommen, dass er lediglich eine Diagnose
       stellt und im Übrigen meint, er sei für eine genaue Vorgehensweise der
       Therapie nicht zuständig.
       
       Was heißt also beispielsweise die Kategorie „Beziehung im Klassenzimmer“?
       Woran erkennt man, dass ein Pädagoge zu Dutzenden Kindern eine Beziehung
       pflegt, die in jedem einzelnen Fall aber auch anders geartet sein muss,
       weil ja jedes Kind eine einzigartige Persönlichkeit ist. Eine komplexe und
       unmöglich zu bewältigende Herausforderung. Was zum Beispiel heißt
       Gleichheit in diesem Fall, was gleiche Behandlung aller Kinder? Soll der
       Lehrer alle Schüler in den Arm nehmen?
       
       Wenn ein Unterrichtskonzept alle Kinder entsprechend ihren Anlagen
       anzusprechen vermag, dann kommen auch ganz unterschiedliche Vorgehensweise
       der Kinder zum Vorschein. Individualität ist somit eine Frage der
       handwerklichen Kompetenz.
       
       Schlage ich in einem Lexikon nach, dann wird der Begriff „Beziehung“ mit
       Synonymen wie „Verbindung“ oder „Zusammenhang“ gleichgesetzt. Frage ich
       aber einen Reformpädagogen nach dem Sinngehalt von „Beziehung“, dann
       bekomme ich in der Regel als Antwort: „Nähe zum Kind“, „Zärtlichkeit“.
       
       Aber was bedeutet denn Nähe, wenn man als Lehrer innerhalb eines Tages
       mehrere Dutzend Lernende betreuen muss? Hat Zärtlichkeit in einem
       Klassenzimmer überhaupt etwas verloren? Was bedeutet dann der Begriff
       „Reformpädagogik“ in der Schulwirklichkeit von heute?
       
       ## Methoden des Lernens und Lehrens
       
       Von Reformpädagogik kann man meiner Meinung nach sprechen, wenn es auf der
       Grundlage von neuen Erkenntnissen um die Modifizierung und Verbesserung der
       obwaltenden Konzepte und Methoden des Lernens und Lehrens geht, nämlich um
       die Reform des didaktischen und pädagogischen Handelns. Doch die deutschen
       und die schweizerischen Gelehrten der Reformpädagogik haben ein anderes
       Verständnis dieses Begriffs.
       
       Dies wird auch deutlich, wenn man Herrn Largo mit der Frage nach dem
       Begriff „Nähe zum Kind“ konfrontiert. Welche Beziehung hat Herr Largo zu
       den Kindern und Jugendlichen? Ich frage dies, weil mir schwindelig wird zu
       lesen, wie Herr Largo auf die Frage reagiert, ob die Reformpädagogik nach
       dem Skandal unter die Räder gekommen ist.
       
       Er sagte dazu auf Spiegel-Online. „Viele haben vor Freude aufgejault ob der
       Gelegenheit, die Reformpädagogik abzuschießen. Da kann ich nur mit den
       Schultern zucken. Es geht in den Kritiken nur um Haltungen, nicht um
       Argumente. Ich bleibe dabei: Vertrauensvolle Beziehungen sind die Grundlage
       jeder Pädagogik – in der Familie wie auch in der Schule. Und: Eltern und
       Lehrer können der Verschiedenheit von Kindern nur gerecht werden, wenn sie
       sich auf jeden Schüler auch emotional einlassen und jedes Kind individuell
       behandeln.“
       
       Herr Largo geht mit keiner Silbe auf die Katastrophe an der Odenwaldschule
       ein. Es bekümmert ihn offensichtlich nicht, dass aus Nähe und Beziehung
       dort über 20 Jahre hinweg systematisch sexuelle Gewalt und Missbrauch
       wurden. Nicht von allen Lehrern – aber von einer Handvoll in einem
       30-Personen-Kollegium, also von 15 Prozent der Lehrerschaft. Mehrere Opfer
       des Missbrauchs haben sich das Leben genommen, Dutzende von Biografien sind
       zerstört worden, Hunderte von Kindern wurden missbraucht. Vom „Aufjaulen
       vor Freude“, die „Reformpädagogik abzuschießen“ zu sprechen, klingt in
       diesem Zusammenhang mehr als zynisch.
       
       ## Scham und Schmerz
       
       Hier kann es nur ein Aufjaulen vor Scham und Schmerz geben. Denn dies alles
       geschah unter dem Deckmantel der Reformpädagogik und explizit unter der
       Tarnkappe der Propagierung einer Beziehung, „die dem Aufwachsen nützt“.
       Gerold Becker, damaliger Schulleiter der Odenwaldschule, stellte
       „Beziehung“ in den Mittelpunkt des Lernens an der Schule. „Mit der
       Schulreformerei ist Schluss, jetzt geht es um Pädagogik“, sagte er, als er
       die Schule übernahm.
       
       Bis zum heutigen Tag gibt es unter den Gelehrten der Reformpädagogik
       deutscher Prägung nur Abwehr. Ihnen geht es tatsächlich nicht um das Wohl
       des Kindes, sondern um die Rettung einer Ideologie. Einer Ideologie, die
       sich rein auf den historischen Kontext ihrer Entstehung zu Beginn des 20.
       Jahrhunderts orientiert. Doch inzwischen haben wir andere Wirklichkeiten.
       Wir haben andere Lernbedingungen, anders sozialisierte Kinder und andere
       Wahrnehmungsmöglichkeiten der Welt.
       
       Jede Entwicklung bedeutet Veränderung, und auch die Pädagogik muss eine
       Antwort auf die Veränderungen finden. Ernüchternd, dass der populäre
       Ratgeber, Remo Largo, ausblendet, was seiner Ideologie schaden könnte.
       
       Was bedeutet „Nähe zum Kind“? Ist mit dem Charakter einer Beziehung die
       körperliche Nähe, die emotionale Nähe oder eine angemaßte Nähe gemeint, die
       übergriffig wird? Je mehr ich darüber nachdenke, umso diffuser werden mir
       die Rufe nach Beziehung zu Kindern. Ich denke, dass Kinder in erster Linie
       darauf vertrauen müssen, dass sie ernst genommen werden. Jemanden ernst
       nehmen bedeutet, dass ich mich darum bemühe, seine Sicht der Welt zu
       erkennen. Denn nur so kann ich sie verstehen.
       
       ## Nüchterne Aufgabe Pädagogik
       
       Verstehen im Sinne der Pädagogik bedeutet auch, dass ich mich um eine
       Lernatmosphäre bemühe, die Kinder ermutigt, sich selber und ihre Welt
       besser zu verstehen. Es ist also vielmehr eine Frage der inneren Haltung
       und der klaren Strukturen als die der sogenannten Beziehung zu Kindern.
       Pädagogik ist eben eine sehr nüchterne Aufgabe, bei der das Handwerkliche
       die größte Bedeutung hat. Ein guter Pädagoge zeichnet sich vornehmlich
       dadurch aus, dass er gelernt hat, sich selber zu verstehen. Denn nur dann
       kann er auch die Kinder verstehen.
       
       Sich selber und die Kinder verstehen lernt man dadurch, dass man eine
       kreative Distanz zu sich selber, den Kindern – also insgesamt zu seinen
       Handlungen – bewahrt, damit man seine Fehler entdecken und mit analytischem
       Verstand sein Tun betrachten kann.
       
       Das sind hohe Anforderungen an die Person der Lehrenden. Doch zugleich sind
       sie, gemessen an der Verantwortung der Pädagogen, das Mindeste, was man
       erwarten kann. Denn die Zukunft der Kinder können wir nicht vertagen oder
       dem Zufall überlassen.
       
       Pädagogisches Handeln ist in der Tat die Suche nach kognitiven und
       emotionalen Verbindungslinien, die Zusammenhänge sichtbar machen, die für
       die Lehr- und Lernprozesse bedeutsam sind. Wieder einmal lerne ich, dass
       Lexika hilfreicher sind als pädagogische Statements.
       
       11 Jan 2013
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/erziehungsexperte-remo-largo-bildungspolitiker-sollten-entmachtet-werden-a-728539.html
 (DIR) [2] http://tiny.cc/wagenschein
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Salman Ansari
       
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