# taz.de -- Wie der Punk nach Hannover kam (I): Warten auf Sid Vicious
       
       > Als die Sex Pistols ihr Debüt in London gaben, langweilt sich der Autor
       > mit dem lokalen Moped-Rowdyclub an der Straßenecke. Bis eines Tages …
       
 (IMG) Bild: Brauchten ein wenig, bis sie in Hannover ankamen: die Sex Pistols.
       
       In dem Jahr, in dem nach einer später vorgenommenen Zeitrechnung der Punk
       geboren wurde, war ich 14 Jahre alt. Im November 1975, als die Sex Pistols
       ihr Debütkonzert an der Londoner St. Martins School of Art and Design
       gaben, trieb ich mich in den schlecht beleuchteten Straßen eines
       hannoverschen Vorstadtbezirks herum, der im Kern noch ganz dörflich
       verfasst war, größtenteils jedoch aus Mietskasernen und
       Genossenschaftsblocks bestand und an den Rändern zu Wald, Wiesen und
       Kleingärten zerfaserte.(1)
       
       Die älteren Jugendlichen, die am Kiosk an der Straßenecke herumlungerten,
       während wir Jüngeren sie vom gegenüberliegenden Spielplatz dabei
       beobachteten, wie sie ihr Bier tranken, über die Leistungen ihrer Mopeds
       quatschten beziehungsweise über die Autos, die sie sich irgendwann kaufen
       würden(2), trugen Schlaghosen mit Fuchsschwänzen am Gürtel und
       cowboystiefelartige Stiefeletten mit schrägen Absätzen. Echte Cowboystiefel
       waren unerschwinglich.
       
       Der lokale Moped-Rowdyclub nannte sich Eagles, eine pathetische Bande von
       Wichtigtuern mit Adler-Patches und Zündapp-Aufnähern auf eng anliegenden
       Jeansjacken oder -westen, die Fahrräder klauten und in die Keller der
       Sozialbauten einbrachen. Es waren nicht mal richtige Schläger von der
       Sorte, die wir Buffer nannten (deutsch ausgesprochen), stumpfsinnige junge
       Männer in beigefarbenen Cordsakkos (mit zu kurzen Ärmeln) und weiten
       1970er-Jahre-Jeans, die an den Wochenenden die Tanzveranstaltungen im
       evangelischen Jugendclub unsicher machten und sich Prügeleien mit Gruppen
       jugoslawischer Gastarbeiter oder dem Nachwuchs britischer
       Besatzungssoldaten lieferten, die in einer kleinen Siedlung am Rande meines
       Viertels wohnten.
       
       Ich sage „mein Viertel“, weil ich keine Ahnung davon hatte, wie irgendwas
       irgendwoanders aussah. Ich las zwar ab und zu die Bravo, konnte jedoch kaum
       eine Beziehung herstellen zu dem, was dort propagiert wurde. Für Klamotten
       fehlte mir sowohl das Geld als auch der Sinn. Mein Musikgeschmack mäanderte
       zwischen Boney M., den Bay City Rollers(3) und Kraftwerk –
       „Radio-Aktivität“ war die erste Langspielplatte, die ich besaß, und die
       hatte ich mir wegen des Covers gekauft und weil ein Bogen neongelber
       Aufkleber dabeilag.
       
       „Doch zunächst passierte gar nichts.“ 
       
       Zunächst hielt ich das Rumstehen am Kiosk für den einzig wünschenswerten
       Zustand sozialer Existenz. Innerhalb weniger Wochen im Frühjahr waren die
       Älteren aus unserer Spielplatzgruppe zu den „Großen“ graduiert, wo wir
       Gelegenheit bekamen, unsere Männlichkeit unter Beweis zu stellen, indem wir
       breitbeiniges Stehen übten, die Daumen in die Taschen unserer Jeans
       hängten, mit einer ruckartigen Bewegung des Kopfes die Haare nach hinten
       warfen und aufmerksam die Einhaltung der immergleichen Zeremonie
       beachteten: Begrüßung, Bierkauf, Zuprosten, Trinken, gefolgt von Gelaber
       über Technik.
       
       Konformität sicherte mir jene Anerkennung durch die Älteren, die ich
       suchte. Ich interessierte mich einen Dreck für die Motorenvariationen, die
       für den neuen Audi 100 angeboten wurden, doch tat ich, als sei dies das
       wichtigste Thema der Welt und ich darin der beste Auskenner.
       
       Ich hatte noch immer keine kulturellen Referenzen, mir fehlte es schlicht
       an Grundwissen. Ich kannte nichts außer schlimmen Jugendromanen aus der
       Leihbücherei und Musik aus dem Radio, deren Titel ich immer falsch
       verstand, weil ich kein Englisch sprach, und Disco 75 mit Ilja Richter. Ich
       kannte niemanden, der mir etwas sagen, zeigen oder beibringen konnte, was
       sich von der absoluten Gleichförmigkeit des Lebens an der Straßenecke
       unterschied. Die Jungs dort waren keine Angry Young Men, sie schienen sich
       auch nicht zu langweilen beziehungsweise schien ein Zustand des
       Gelangweiltseins ihr natürlicher zu sein, als sei es an sich schon eine
       Leistung, das Vergehen der Zeit zu meistern, ohne dass in dieser Zeit auch
       noch etwas passieren muss.
       
       Ich dagegen wollte immer, dass etwas passiert. Doch zunächst passierte gar
       nichts. Im Anschluss an den Kinobesuch gab es eine Wurst mit Pommes, dann
       ging es in die Disko, wo ich regelmäßig abgewiesen wurde, nicht aufgrund
       meines noch jungen Alters, sondern weil ich nicht richtig angezogen war.
       Ich löste das Problem, indem ich mir ein Paar ziemlich enger
       bordeauxfarbener Feincordhosen zulegte, Stiefeletten mit Messingbeschlägen
       an der Spitze und am Absatz sowie ein goldfarbenes Hemd mit einem
       schwarzschillernden Muster drauf, dass ich für Barock hielt.
       
       „God, I love disco.“ 
       
       Im Mr. Drinks Beerhouse im Souterrain unter einem – vergessen, was das für
       ein Laden war – Elektrohaushaltsgeräte? – ging es Disco-Disko-mäßig zu
       Sache, mit Van McCoys „The Hustle“, mit The Trammps’ „Disco Inferno“
       („Burn, Baby, burn!“) und dem ganzen Musikpaket aus dem Film „Saturday
       Night Fever“. Dreiviermal am Abend gab’s für zwanzig Minuten Langsam-
       beziehungsweise Engtanzen – das nannte sich Stehblues.
       
       Die Kunde von den Sex Pistols hatte mich noch immer nicht erreicht. Später
       würde sogar Johnny Rotten sagen: „God, I love disco. I see no problem
       admiring the Bee Gees and being in The Sex Pistols.“(4) Es ging um
       Widersprüche und auch Übereinstimmungen zwischen der irgendwie
       hedonistischen Attitüde einer letztlich doch spießig-konformen Diskoszene
       und den demnächst anstehenden unerhörten Entwicklungen, die der Punk
       bringen sollte.
       
       Der Alkoholverkauf an Minderjährige stellte kein Problem dar. Zur Happy
       Hour gab’s zwei Futschi(5) für zwei Mark. Es war klar, worum es ging, war
       es immer gewesen, auch hier. Nicht so klar war, wie es zu bekommen war. Ich
       befand mich mitten in einer Zeitenwende, doch das wusste ich nicht. Auch
       wie radikal diese ausfallen würde, sollte mir erst sehr viel später bewusst
       werden. Einerseits forderten die Jungs die Mädels noch richtig altmodisch
       zum Tanzen auf. Da wurde hofiert, man flirtete, schickte Emissäre, die
       zwischen den Tischen und der Tanzfläche hin- und hereilten.
       
       Ein „Musikstil, ‚wie ihr ihn noch nie gehört habt‘“ 
       
       Zur gleichen Zeit gab es bereits welche, die umstandslos nach dem Klo
       verschwanden, wo sie fickten und Drogen nahmen. Das war unerhört und sorgte
       wochenlang für Gesprächsstoff. Ich hielt mit, so gut es eben ging,
       beziehungsweise ich tat eben so, als würde ich mithalten, als sei ich im
       Bilde, obwohl ich nur eine vage Ahnung hatte. Einen Joint immerhin hatte
       ich schon geraucht. Ich schaffte es nie, eine der Diskomiezen
       abzuschleppen, obwohl ich mir immer einzureden versuchte, dass diese
       scharfen Zwanzigjährigen doch ganz wild nach einem unverdorbenen Jungen
       sein müssten.
       
       Eines Nachts passierte etwas Seltsames. Der DJ (damals wurden die Stücke
       teilweise noch angesagt) verkündete, er werde eine ganz neue, brandheiße
       Scheibe spielen, mit einem Musikstil, „wie ihr ihn noch nie gehört habt …
       nämlich … PUNK!“ – Es war dann „Ça Plane Pour Moi“ von Plastic Bertrand,
       was ein instantaner Renner wurde und von da an jeden Abend lief. Es wurde
       heftig getanzt zu diesem Stück, allerdings nicht im – naja – klassischen
       Disco-Tanzstil, sondern tatsächlich in so etwas wie einem ungelenken
       Proto-Pogo, der sich wie von selbst ergab.
       
       (1) Dreißig Jahre später sollte ich von einem alten Freund aus der
       Punkszene, der allerdings einen gutbürgerlichen hannoverschen Background
       hat, erfahren, dass Kleefeld, jenes Viertel, in dem ich damals lebte, im
       Rest der Stadt berüchtigt gewesen war. Niemand ging in den Dohmeyers Weg,
       wenn er nicht musste.
       
       (2) Die authentische Darstellung einer solchen Szene zeigt die
       ZDF-Miniserie „Hans im Glück aus Herne 2“ (1983, Regie: Roland Gall). Als
       ich die Folgen im Jahr 2010 erstmals sah, war ich erschüttert vom Ansturm
       der Erinnerungen. Ich hatte alles vergessen: die Kleidung und die Frisuren,
       die Sprache, aber auch die Ausweglosigkeiten des Milieus. Auch staunte ich
       darüber, dass sich – zumindest in „Herne 2“ – ein solches Milieu in acht
       Jahren kaum verändert hatte. 1983, als die Serie gedreht wurde, fanden
       selbst in Hannover bereits ganz andere Sachen statt, zum Beispiel die
       Chaostage.
       
       (3) Wo man hinschaut, es ist immer beides. In „The Filth and the Fury“
       spricht Johnny Rotten davon, wie sich Glen Matlock nie wirklich mit dem
       Realität der Sex Pistols als Punkband anfreunden konnte und eigentlich
       immer eher eine Karriere in einer Band wie den Bay City Rollers angestrebt
       habe.
       
       (4) Loaded Magazine, April 1998
       
       (5) Weinbrand-Cola im „Tönnchen“, woanders auch Tutschi geheißen!
       
       23 Feb 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Heinrich Dubel
       
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       Frage: Geht das überhaupt, Punk sein und in Würde altern? Antwort: Hymne
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       noch übrig ist, erkundet jetzt das dortige Staatstheater: „Chaostage – Der
       Ausverkauf geht weiter!“
       
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       Doch die Entscheidung hat unvorhergesehene Konsequenzen.