# taz.de -- Zukunft des Arbeitskampfes: Streiken à la Stuttgart
       
       > Werden Streiks experimentierfreudiger, jünger und weiblicher? Auf einer
       > Konferenz diskutieren mehr als 450 Gewerkschafter, Aktivisten und
       > Forscher.
       
 (IMG) Bild: Und zwar immer kreativer.
       
       BERLIN taz | Deutschland ist ein streikarmes Land. In Frankreich, Dänemark,
       Spanien, aber auch in Kanada legen Beschäftigte deutlich häufiger die
       Arbeit nieder. Und doch tut sich etwas, Streiks werden jünger, weiblicher
       und experimentierfreudiger, so das Fazit der Konferenz „Erneuerung durch
       Streik“, zu der die Rosa-Luxemburg-Stiftung und die
       Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di am vergangenen Wochenende nach Stuttgart
       einluden.
       
       Die baden-württembergische Landeshauptstadt ist nicht erst seit dem
       Aufstand gegen den Tiefbahnhof eine Protesthochburg. „Ich habe hier gefühlt
       300 Streikversammlungen in den letzten zehn Jahren erlebt“, erinnerte sich
       Bernd Riexinger, Chef der Linkspartei und von 2001 bis 2012 Geschäftsführer
       des Stuttgarter Ver.di-Bezirks, im mit mehr als 450 Personen voll besetzten
       Saal des DGB-Hauses, in dem sich auch viele junge Menschen eingefunden
       hatten.
       
       An Stuttgarts Renitenz ist Riexinger nicht ganz unschuldig. Unter ihm wurde
       der Ver.di-Bezirk seit 2006 zur Streikhochburg der Dienstleistungsbranche.
       Damals legten die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes wochenlang die
       Arbeit nieder, um eine Verlängerung der Arbeitszeit von 38,5 auf 40 Stunden
       abzuwehren. Eine halbe Stunde Mehrarbeit mussten sie schließlich
       akzeptieren, eine teilweise verlorene Schlacht also.
       
       Doch die Arbeitsniederlegung war Auftakt dazu, mit neuen Streikformen zu
       experimentieren. So konterten die städtischen Müllwerker den Einsatz
       privater Reinigungsfirmen als Streikbrecher, in dem sie die
       Rein-raus-Strategie entwickelten: Sie erschienen an etlichen Tagen normal
       zum Dienst und begannen den Streik erst, als die Arbeitgeber den privaten
       Firmen abgesagt hatten.
       
       ## Die-ins und Rap in der Fußgängerzone
       
       In den folgenden Jahren erlebte Stuttgart ausdauernde und kreative Streiks
       im Gesundheits- und Erziehungswesen, aber auch von prekär beschäftigten,
       jungen Arbeitnehmerinnen in Modeketten wie beispielsweise H&M. „Als wir
       erst einmal Kontakt zu den jungen Frauen hatten, entwickelte sich eine
       unheimliche Kreativität“, erzählt Christina Frank von der Ver.di-Fachgruppe
       Einzelhandel aus Stuttgart. Die-ins vor den Modetempeln, lautstarke
       Rap-Performances und gezielte Arbeit, um die Öffentlichkeit aufzuklären,
       waren der Schlüssel zum Erfolg: Die Streichung von diversen Zuschlägen
       wurde abgewehrt, ein neuer Tarifvertrag stand. 40 Einzelhandelsgeschäfte
       von Zara über Kaufhof, H & M und Real hatten sich an den
       Arbeitsniederlegungen beteiligt.
       
       „Wir streiken, wann immer wir können“, lautete die Losung, die Riexinger
       als Geschäftsführer ausgab. Erfahrungen sammeln, Ängste verlieren,
       konfliktfähig werden, so die Ziele. Denn klar ist bei aller zarten
       Aufbruchstimmung, die im Gewerkschaftshaus am Wochenende herrschte: Etliche
       der Streiks beginnen als Abwehrkampf oder auf schwierigem Terrain.
       
       „Immer häufiger reicht die Androhung einer Arbeitsniederlegung nicht mehr
       aus, um die Arbeitgeberseite zum Einlenken zu bewegen“, schreibt die
       Forscherin Catharina Schmalstieg in einer Studie, in der sie die neue
       schwäbische Streikstrategie untersucht. Der Gewerkschaft bleibe so gar
       nichts anderes übrig, als mehr Beschäftigte streikfähig zu machen und die
       Öffentlichkeit gezielt für sich zu gewinnen.
       
       ## Abschied von eingefahrenen Strukturen
       
       Diese Erfahrungen gibt es nicht nur in Stuttgart. So fußt beispielsweise
       die Kampagne „Neulich bei Netto“, mit der erfolgreich in einigen Filialen
       des Lebensmitteldiscounters gewerkschaftliche Vertrauensleute installiert
       wurden, auf beharrlicher Kampagnen- und Öffentlichkeitsarbeit, prominente
       Politiker wurden als Unterstützer gewonnen. „Das ist ein wichtiger Baustein
       für den Erfolg“, erzählte Katharina Wesenick von Ver.di Niedersachsen.
       
       Aber auch die Gewerkschaft selbst muss sich von eingefahrenen Strukturen
       verabschieden. „Die Streikenden selbst müssen zu Akteuren der
       Auseinandersetzung werden“, so Riexinger. Statt auf Top-down-Entscheidungen
       von hauptamtlichen Funktionären setzt man in Stuttgart auf die große
       Streikversammlung: Alle Streikbeteiligten verschiedener Branchen oder
       Unternehmen diskutieren und fällen gemeinsam im großen DGB-Saal
       Entscheidungen. „So entstehen eine große Kampfkraft und ein hohes
       Verantwortungsbewusstsein“, so Riexinger. Das Beispiel, so sagen etliche
       Konferenzteilnehmer, sollte bei Ver.di Schule machen.
       
       4 Mar 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Eva Völpel
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Streik
 (DIR) Verdi
 (DIR) DGB
 (DIR) H&M
 (DIR) Bernd Riexinger
 (DIR) Tarifkonflikt
 (DIR) Schwerpunkt Frankreich
 (DIR) DGB
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Arbeitskampf in Dänemark: Lehrer ausgesperrt
       
       Alle dänischen Gesamtschulen sind lahmgelegt – die Lehrer wurden
       ausgesperrt. Mit der Maßnahme wollen die Arbeitgeber längere
       Unterrichtszeiten durchboxen.
       
 (DIR) Klischees und Arbeitsmoral: Die faulen Franzosen
       
       Nach der Kritik eines US-Unternehmers an der Arbeitsmoral in Frankreich
       schäumt der Industrieminister. Tatsächlich arbeiten Franzosen länger als
       Deutsche.
       
 (DIR) Zunahme bei Arbeitskämpfen: Sozialpartnerschaft bröckelt
       
       Die Zahl der Streiks hat 2012 wieder deutlich zugenommen. Vor allem in der
       Dienstleistungsbranche gab es mehr Konflikte.
       
 (DIR) Häfen und ihre Gewerkschaften: Bruderkrieg am Kai
       
       Eine kleine Gewerkschaft für Hafenarbeiter hat Zulauf: Contterm. Viele
       Mitglieder waren vorher bei Ver.di und sind enttäuscht von der Arbeit der
       Großgewerkschaft. Die erkennt im Konkurrenten nur „eine Erscheinung“
       
 (DIR) Arbeitskampf beim DGB: Gewerkschaftsbund wird bestreikt
       
       Der DGB fordert gern 6,5 Prozent mehr Lohn. Die Beschäftigten beim
       DGB-Rechtsschutz sollen nur 0,9 Prozent bekommen – und legen die Arbeit
       nieder.