# taz.de -- 30 Jahre Grüne im Bundestag: Die Welt retten, und ja: sofort!
       
       > Strickpullis, Vollbärte, Sponti-Gestus: Marieluise Beck erzählt, wie sie
       > mit einer Chaostruppe in den Bonner Bundestag einzog.
       
 (IMG) Bild: Gestern war's: Petra Kelly und Marieluise Beck-Oberdorf bei der konstituierenden Sitzung des Bundestags am 29. März 1983
       
       BERLIN taz | Wenn man so will, begann mit diesem Tannenzweig alles, sowohl
       der Aufstieg als auch die Ernüchterung. Ein Vormittag im März 1983, gerade
       wurde Helmut Kohl zum Kanzler gewählt. Eine junge Frau steht im Bonner
       Plenarsaal auf, geht zu Kohl hinüber und drückt ihm einen kränklichen Zweig
       in die Hand, von dem gelbe Nadeln rieseln. Waldsterben, saurer Regen, die
       zierliche Grüne, der massige Kanzler, der verlegen lächelt: ein Bild für
       die Geschichtsbücher.
       
       Marieluise Beck lacht, als sie sich an diese Szene erinnert. Beck, 60
       Jahre, derselbe Kurzhaarschnitt nur in Silbergrau, schenkt in ihrem
       Berliner Abgeordnetenbüro Grüntee mit Jasminaroma ein und lehnt sich im
       Stuhl zurück. Sie muss in diesen Tagen oft die alten Anekdoten erzählen.
       
       Beck ist die Einzige in der aktuellen Grünen-Fraktion, die dabei war vor
       dreißig Jahren, als ihre Partei zum ersten Mal in den Bundestag in Bonn
       einzog. Als die Grünen sich aufmachten, die Republik zu verändern, war sie
       eine von drei Fraktionssprechern. Sie saß vorn neben Petra Kelly, der Ikone
       der Bewegung, dahinter der strenge Rechtsanwalt Otto Schily.
       
       Es soll um die Grünen und ihre Bürgerlichkeit gehen. Um die Frage, ob der
       Marsch der bunten Truppe durch die Institutionen auch etwas mit Heimkehr zu
       tun hat. Mit Ankommen. Und mit Dazugehörenwollen. Waren die Bürgerschrecks,
       die da mit Strickpullis und zauseligen Vollbärten plötzlich im Parlament
       saßen, nicht im Grunde von Anfang an bürgerlich?
       
       ## Ökos und Politkader
       
       Bonn war nicht auf die Grünen vorbereitet, die Fraktionsräume waren
       zunächst ein Provisorium. Die Abgeordneten bezogen eilig hergerichtete
       Räume im Hochhaus am Tulpenfeld. „Die ersten Wochen waren eine unglaubliche
       Strapaze. Irre“, sagt Beck. Tägliche Fraktionssitzungen, ab 14 Uhr bis tief
       in die Nacht, presseöffentlich, ohne jede Struktur und Leitung. Naive Ökos
       trafen auf kühle Politkader aus den K-Gruppen, Feministinnen auf
       Bewegungsaktivisten.
       
       Wie himmelhoch der Anspruch der Bewegung an die Grünen und der Grünen an
       sich selbst war, zeigt der Wahlaufruf von damals: 16 Seiten, ganz vorn
       prangt die stilisierte Sonnenblume, ein Sound, zwischen Zukunftstraum und
       Weltuntergang. „Wir treten an, um der pazifistischen, ökologischen und
       sozialen Opposition […] eine Stimme zu geben“, heißt es darin.
       Antiatompolitik, Solidarität mit der Dritten Welt, statt Aufrüstung
       Pazifismus und Streichung des Rüstungshaushaltes. Darunter machten sie es
       nicht.
       
       Schnell zeigte sich, dass auch Friedensbewegte brutal kämpfen, wenn
       Egoismen ins Spiel kommen. Als es um die Verteilung der Gremien ging,
       drängten alle in den Verteidigungsausschuss. Wohin sonst, wenn die Pershing
       II droht? Da „waberten Auswüchse von Heuchelei und Misstrauen durch den
       Raum“, erinnert sich Beck. Um die besten Posten wurde geschachert wie in
       anderen Parteien.
       
       Ein NDR-Journalist begleitete die Neulinge in den ersten Wochen Tag und
       Nacht. So nah, dass er auch mal den Telefondienst übernahm. Ständig riefen
       Bürger aus der ganzen Welt an. Die kleine Oppositionsfraktion sollte
       schließlich die Welt retten, und ja: sofort. Die Fernsehdokumentation „Lust
       und Frust“ zeigt das Chaos der Anfänge – und die wichtigen Figuren: Joschka
       Fischer, jungenhaft, mit Wirbel im Haar und schwarzer Lederjacke, der im
       Tagungssaal lässig an der Wand lehnt. Otto Schily, der Rechtsanwalt, Anzug
       und korrekt gebundene Krawatte, der schwatzende Fraktionskollegen anpfeift,
       sie mögen dies draußen tun.
       
       ## Nichts Menschliches war ihnen fremd
       
       Eitelkeit, Profilierungssucht, Karrieredenken – nichts Menschliches war den
       Weltverbesserern fremd. Beispiel Tannenzweig: Nachdem Beck ihn Kohl
       überreicht hatte, schoss Schily auf seine Kollegin zu. Er habe sie noch im
       Plenum zusammengefaltet, weil die Aktion nicht abgesprochen war, erzählt
       Beck und lacht wieder. „Otto war sofort klar, dass das ein Bild gibt.“
       
       Sie, die kleine Deutschlehrerin aus Baden-Württemberg, durfte damals die
       erste Rede halten, das Entree der Grünen im Bundestag – so hatte es die
       Fraktion bestimmt. Nicht er, der altgediente Jurist. „Das war für ihn auch
       eine patriarchale Kränkung.“
       
       Bei den Grünen waren und sind viele, die ihr gesamtes Leben lang nur
       Politik gemacht haben. Fischer, Trittin, Künast, Roth, Özdemir, sie alle
       sind jung professionell in die Partei eingestiegen. Dies ist eine der
       grünen Pointen: Die, die anders sein wollten als andere, repräsentieren das
       Berufspolitikertum wie kaum eine andere Partei. In der ersten Fraktion
       waren 20 der 27 Abgeordneten Akademiker, nur zwei hatten zuvor als
       Facharbeiter Fabriken von innen gesehen.
       
       Marieluise Beck macht das Erinnern sichtlich Spaß. Sie zitiert aus dem Kopf
       Sätze ihrer ersten Rede, springt auf, legt zwei Bände mit
       Sitzungsprotokollen der ersten Fraktion auf den Tisch, dass die
       Porzellantassen wackeln. Beck landete nur bei den Grünen, sagt sie, weil
       die in Baden-Württemberg anders waren. „Denen fehlte der revolutionäre
       Gestus, dafür gab es diesen bürgerlichen, vernünftigen Grundton.“
       
       Welche Rolle spielte Bürgerlichkeit bei den Anfängen?
       
       Beck denkt ein paar Sekunden nach. „Die Grünen waren ja eine Melange
       unterschiedlichster Biografien.“ Joschka Fischer, der Vater Metzger,
       kleinbürgerliches Elternhaus, habe seinen Sponti-Gestus gepflegt, sagt sie.
       „Er wollte aber im Grunde zum Bürgertum gehören. Und wechselte deshalb
       später so problemlos in den Maßanzug.“
       
       ## Abgrenzen vom Bürgertum
       
       Andere seien aus großbürgerlichen Elternhäusern gekommen. „Sie grenzten
       sich erst ab, wollten aber später wieder so leben. Abgrenzung vom Bürgertum
       und das Dazugehörenwollen, beides spielte eine große Rolle.“ So gesehen
       steht das Reden von Bürgerlichkeit und Wertkonservatismus heute auch für
       eine Versöhnung mit eigenen Elternhäusern. Die Bürgerskinder sind zu Hause
       angekommen.
       
       Anfang herrschte das Egalitätsprinzip, selbst in Details, was sich
       fürchterlich auswirkte: Abgeordnete mussten nach zwei Jahren, gerade erst
       in Fachthemen eingearbeitet, Nachrückern Platz machen, weil damals das
       Rotationsprinzip galt. Völlig Unbekannte bekamen die gleiche
       Sekretariatszeit wie Petra Kelly, die kistenweise Post selbst sortieren
       musste.
       
       Doch die Fraktion richtete sich schnell ein in den Verhältnissen, auch weil
       Schily und Fischer, der Parlamentarische Geschäftsführer, strikt die
       Professionalisierung vorantrieben. Ebenso konsequent bauten sie ihre
       Netzwerke aus: Als der Spiegel zum Kamingespräch einlud, erinnert sich
       Beck, gingen die beiden Jungs selbstverständlich alleine hin – ohne den
       Frauen Bescheid zu sagen. „Es haben sich sehr schnell informelle
       Machtstrukturen gebildet. Das hatte etwas sehr Ernüchterndes.“
       
       Dennoch wirkte die Fraktion wie eine Erfrischungskur für die verschnarchte
       Bonner Republik. Schnell lernten die Grünen die Tricks des
       Parlamentarismus, die Zahl der Aktuellen Stunden explodierte, weil Grüne
       ständig welche beantragten. Und die quälenden Debatten über Schwenks in der
       rot-grünen Regierungszeit sind bekannt. Die Zustimmung zum Kosovokrieg, zur
       Agenda 2010, zum Ausstiegskompromiss, bei dem der Parteilinke Jürgen
       Trittin seinen Leuten beibrachte, dass sich auch Betreiber von
       Atomkraftwerken auf geltendes Recht berufen können.
       
       Kurz, die Grünen lernten, sich von Idealen zu verabschieden. Für Beck
       bleibt dies die wichtigste Leistung der vergangenen 30 Jahre: „Unsere
       größte Errungenschaft ist, dass wir den Kompromiss nicht mehr denunzieren.“
       
       12 Mar 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrich Schulte
 (DIR) Ulrich Schulte
       
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 (DIR) Otto Schily
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