# taz.de -- Neurobiologie des Vogelgesangs: Lebenslanges Lernen leicht gemacht
       
       > Bisher nahm die Neurowissenschaft an, dass Nervenzellen wachsen und
       > irgendwann sterben. Die Forschung an Singvögeln zeigt, dass das nicht so
       > sein muss.
       
 (IMG) Bild: Haben jedes Jahr neue Nervenzellen: Kanarienvögel.
       
       Als der englische Philosoph John Locke (1632-1704) die Geschichte vom
       Papagei des Prinzen von Nassau erzählte, der in der Lage war, eine
       Konversation aufrechtzuerhalten und wie ein vernünftiges Wesen zu
       antworten, traf er die Stimmung der Zeit. Man vermutete im 17. und 18.
       Jahrhundert, dass Vögel sprechen können und dass Sprache deshalb außerhalb
       jeder Klasse und Ordnung angesiedelt ist.
       
       Denn dass Vögel in einer irgendwie gearteten verwandtschaftlichen Beziehung
       zum Menschen standen, nahm im 18. Jahrhundert, wo im linnéschen System
       Menschen und Affen als Primaten in eine Ordnung gestellt wurden, niemand
       an.
       
       Heute, ein paar hundert Jahre später, ist die enge Verbindung von
       Vogelgesang und menschlichem Spracherwerb und -gebrauch eine
       neurobiologische Binsenweisheit. Die Neurobiologie des Vogelgesangs wird in
       mehr als weltweit hundert Laboren untersucht und bringt in unzähligen
       Artikeln immer neue Details über das Zusammenwirken von Hören, Lernen und
       Singen im Vogelgehirn an den Tag, die nicht selten dazu führen, dass die
       Lehrbücher tatsächlich umgeschrieben werden müssen.
       
       Es ist noch nicht lange her, dass man lernen musste, dass Nervenzellen nur
       einmal wachsen. Eine Nervenzelle, so lautete das Dogma, wächst heran, tut
       ausgewachsen ihren Dienst und stirbt irgendwann. Eine Erneuerung oder ein
       Nachwachsen von Nervenzellen im entwickelten Organismus galt als
       ausgeschlossen. Deshalb werden Organismen mit zunehmenden Alter immer
       blöder und deshalb konnten Lehrer Generationen von Schülern mit dem Satz
       „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ traktieren.
       
       ## Frühjahr im Vogelhirn
       
       Erschüttert wurde das Dogma von der unveränderlichen Nervenzelle durch die
       Befunde der Arbeitsgruppe um den Biologen Fernando Nottebohm Ende der
       siebziger, Anfang der achtziger Jahre. Nottebohm hatte herausgefunden, dass
       sich bei Kanarienvögeln die für die Kontrolle und Speicherung von Stimm-
       und Gesangsmustern zuständigen Areale im Vogelhirn im Herbst zurückbilden
       und im Frühjahr neu nachwachsen.
       
       Das tun sie im jahreszeitlichen Wechsel bei ausgewachsenen Vögeln über die
       gesamte Lebensspanne. Neurone konnten sich also sehr wohl im Organismus neu
       bilden und somit alte ersetzen. Man hatte damit eine Erklärung für das
       Phänomen gefunden, dass Kanarienvögel jedes Jahr veränderte Lieder singen.
       
       Da Kanarienvögel ihre Lieder wie alle Singvögel lernen müssen, hatte man
       gleichzeitig auch einen Modellorganismus für das, was man heute
       lebenslanges Lernen nennt, gefunden. Aber nicht nur die Tatsache, dass sich
       Nervenzellen erneuern können, machte das kleine Singvogelhirn zu einem
       neuen Vorbild für das Bild vom Hirn. Es ließ sich am Vogelhirn auch zeigen,
       wie im Prozess des Lernens Nervenzellen, Synapsen und auch ganze Hirnareale
       neue Verknüpfungen untereinander herstellen und sich in Abhängigkeit von
       der jeweiligen Verwendung verändern. Ein Phänomen, das als neuronale
       Plastizität beschrieben wird und den Spielraum der Gestaltung
       beziehungsweise Selbstgestaltung des Gehirns in Abhängigkeit von dem
       Gebrauch, den man von ihm macht, beschreibt.
       
       Interessant für die allgemeine Tendenz der Neurobiologiesierung der
       Wissenschaften ist Nottebohms Ausbildung. Nottebohm ist Professor für
       Ökologie und Verhaltensbiologie der Rockefeller-Universität in New York.
       Als klassischer Verhaltensbiologe mit einem Faible für die Ornithologie ist
       er über das Gesangslernen der Singvögel in der Neurobiologie gelandet.
       
       Wobei er mit den Kanarienvögeln natürlich auch Glück hatte, denn auch unter
       Singvögeln organisieren nicht alle Formen jedes Jahr ihr Hirn um und singen
       neu gelernte Lieder. Es gibt auch unter Singvögeln solche, die im Alter
       konservativ werden und keine neuen Lieder singen, sondern nur einmal
       Gelerntes immer wieder wiederholen. Dazu zählen zum Beispiel die
       australischen Zebrafinken.
       
       ## Der Club der gesangslernenden Tiere
       
       Die kleinen Zebrafinken, wissenschaftlich: Taeniopygia guttata, sind
       hierzulande beliebte Ziervögel. Sie lassen sich leicht halten, sind
       freundlich und sehen gut aus. Mit Sicherheit haben diese Eigenschaften auch
       dazu beigetragen, dass die Prachtfinken zu Modellorganismen in der
       Ökologie, Verhaltensforschung und den Neurowissenschaften wurden.
       
       Im System der Neurobiologie des Gesangslernens der Vögel und in Nottebohms
       Labor können sie als die Gegenspieler der Ideologie vom lebenslangen Lernen
       gelten. Auch wenn bis heute nicht bis ins letzte Detail verstanden ist,
       warum Zebrafinken ihre einmal gelernten Lieder nicht mehr verändern, kann
       man sicher sagen, dass sie deshalb auch im Alter nicht weniger
       quicklebendig sind.
       
       Man kann alle bisher durchgeführten Studien zum Stimmen- und Gesangslernen
       auf einen Nenner bringen, und der geht so: Wenn bestimmte Hirnstrukturen
       nicht gegeben sind, kann es kein vokales Lernen geben. Wenn die Strukturen
       aber gegeben sind, hängt ihre Entwicklung unabdingbar mit dem zusammen, was
       die Lebewesen aus ihrer Umgebung entnehmen können und wie sie in dieser
       Umgebung leben.
       
       Dabei hat sich der Club der gesangslernenden Tiere in den letzten Jahren
       erheblich erweitert. Zu ihm gehören drei Gruppen der Vögel - Papageien,
       Kolibris und Singvögel - sowie verschiedene Säugetiere wie Delphine, Wale,
       Fledermäuse, Elefanten, Seelöwen, Seehunde und als neueste Entdeckung auch
       Mäuse. Bei allen erwähnten Arten lassen sich ähnliche Mechanismen der
       Aufnahme von Tönen, ihrer neuronalen Verarbeitung und ihrer folgenden
       Eigenproduktion der gehörten und gelernten Töne beschreiben.
       
       Einschränkend muss man sagen, dass alles, was man bisher über das Lernen
       und die Entwicklung der Vogellieder weiß, nur an wenigen Arten erforscht
       wurde. Es gibt aber um die 9.000 Vogelarten, und von den meisten weiß man,
       was das Lernen und das Potenzial ihrer Stimmen betrifft, so gut wie gar
       nichts. Aber das, was man weiß, lässt in einigen Fällen die
       entwicklungsgeschichtlichen Verschiedenheiten ins Wanken geraten, ohne die
       prinzipiellen Unterschiede zwischen Vögeln und Menschen aufzuheben. Es kann
       bei einer vergleichenden Betrachtung auch gar nicht darum gehen,
       Unterschiede wie den schnelleren Herzschlag der Vögel oder die andere
       Organisation ihres Gehirns zu ignorieren. Man kann nur in bestimmten
       Entwicklungen Parallelen erkennen, die sich nicht in eine hierarchisierende
       Ordnung bringen lassen.
       
       ## Nachtigallen im Dialog
       
       So gibt es bei der Gesangsentwicklung von Nachtigallen Phasen, die man in
       Analogie zur Sprachentwicklung von Menschenkindern betrachten kann. Bevor
       sich bei den erwachsenen Nachtigallen ihre Melodien in durch Pausen
       getrennte Strophen kristallisiert haben, durchlaufen die Jungvögel eine
       Phase, die man als „subsong“ bezeichnet. In der Zeit singen die Vögel in
       langen Kadenzen endlos variierende Sounds vor sich hin. Das ähnelt dem
       vorsprachlichen Brabbeln von Menschenkindern auch darin, dass sich die
       sanft vor sich hin summenden Vögel dabei weder um die Verständlichkeit für
       andere noch um deren Anwesenheit überhaupt scheren. Es hat etwas von einem
       selbstgenügsamen Lautspiel.
       
       Die Berliner Verhaltensbiologen Henrike Hultsch und Dietmar Todt konnten
       zeigen, welche „jugendlichen“ Soundformen die Vögel aus ihrem erwachsenen
       Gesang wieder rausschneiden. Parallelen zur menschlichen Kommunikation
       fanden Hultsch und Todt auch in den entwickelten Liedern. Wenn die
       Nachtigallen Ende April aus ihren Winterquartieren in Afrika zurückkommen,
       beginnen die Männchen sofort mit ihren Tag- und Nachtgesängen.
       
       Da die Männchen zueinander in Konkurrenz treten, werden sie auch aufmerksam
       für Gesänge in der Nachbarschaft. Pfeift man als Mensch in dieser Zeit
       einer Nachtigall einen langen Pfiff ins Lied, antwortet sie nicht selten
       nach einer Pause mit einer exakten Kopie dieses Pfiffes. Von den
       verschiedenen Formen, mit denen Nachtigallen aufeinander reagieren können,
       ist das mustergleiche Antworten eine der Beeindruckendsten, vor allem dann,
       wenn sie sich nicht ins Wort fallen, sondern exakt in die Pausen des
       anderen singen. Diese Reaktionen erfüllen alle Kriterien eines echten
       Dialogs.
       
       1 Apr 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Cord Riechelmann
       
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