# taz.de -- Debatte Finanzkrise: Nichts als Ratlosigkeit
       
       > Beide Großentwürfe der Wirtschaftspolitik, Monetarismus und
       > Keynesianismus, haben sich verschlissen. Alternativen fehlen, Agonie
       > droht.
       
 (IMG) Bild: Geht's jetzt nur noch runter?
       
       Wir sind Zeitgenossen einer unzweifelhaft großen Krise. Liest der
       aufgeklärt-skeptische Sozialwissenschaftler diesen Eingangssatz, dürfte er
       wohl gleich gelangweilt abwinken. Denn der „Krisen“-Begriff ist durch allzu
       großzügigen Gebrauch unscharf geworden. Andererseits: Was wir derzeit
       mindestens europaweit erleben, lässt sich mit Begriffen wie „Probleme“ oder
       „Störungen“ nicht hinreichend charakterisieren.
       
       Viel spricht dafür, dass wir es in der Tat mit einer gravierenden Krise der
       Art zu tun haben, wie sie uns bereits während der Perioden 1873ff. und
       1923ff., abgeschwächt auch in den Jahren 1973ff. begegnet ist. Ökonomische
       Einbrüche waren in allen Fällen primär. Aber ihre Wirkungen reichten
       weiter, strahlten in die politischen und kulturellen Bereiche der
       Gesellschaft aus. Lang aufgebaute Erwartungen an die Zukunft wurden
       enttäuscht; überlieferte Normen trugen nicht mehr zur plausiblen Deutung
       von Ereignissen bei.
       
       Krisen in diesem Sinne kann man als „große Transformationen“ (Karl Polanyi)
       bezeichnen. Sie öffnen Möglichkeitspforten für neue Deutungsmuster, Ideen
       und Handlungsmotivationen. Aber sie können auch Wertedeformationen,
       gesellschaftliche Paranoia befördern. Hans Rosenberg, der Historiker der
       „Großen Depression“ von 1873 bis 1896, hat seine Analyse nicht allein auf
       den wirtschaftlichen Zyklus konzentriert, sondern ebenso auf das
       „psychische Phänomen“ dieser Jahre, auf die „Wahnvorstellungen“, die
       komplette „Gesinnungs-, Glaubens- und Ideenverlagerung“, die schließlich
       zum über Jahrzehnte andauernden Ansehens- und Bedeutungsverlust des
       Liberalismus beigetragen haben.
       
       Dergleichen Umwertungen lassen sich ebenfalls während und im Gefolge der
       Hyperinflation 1923, dann im Zuge der vielfach traumatisch erlebten
       Deflation in den frühen 1930er Jahren beobachten. Die Monate des ersten
       Ölpreisschocks 1973/74, der zeitgleich mit inflationären Entwicklungen und
       Vorboten einer Rezession aufkam, erzeugten für die weiteren 1970er Jahre
       dann ein kollektives „Gefühl der Ungewissheit“.
       
       Inspiriert von Rosenberg haben Historiker wie Hans-Ulrich Wehler und Jürgen
       Kocka überdies darauf hingewiesen, dass solche Transformationsprozesse nur
       schwer konstruktiv zu steuern sind, wenn sich die großen
       gesellschaftlich-politischen Herausforderungen in einem engen Zeitraum
       überschneiden.
       
       Als negatives Vorbild fungierte dabei die zeitliche Überschneidung von
       Verfassungsgebung, Nationalstaatsbildung und der Sozialen Frage im neuen
       Industrialisierungsprozess in Deutschland im dritten Viertel des 19.
       Jahrhunderts. Ein stabiles und ruhiges Selbstbewusstsein, das in den
       Turbulenzen des frühen 20. Jahrhunderts hätte Halt geben können, konnte
       sich so nicht entwickeln. Ohne vorschnell parallelisieren zu wollen, wird
       man dennoch derzeit in Europa eine Konstellation feststellen können, in der
       sich grundsätzliche Herausforderungen zeitlich ebenfalls überlappen und
       dadurch gegenseitig erschweren: die explosiven Turbulenzen auf den
       Finanzmärkten, die gigantischen Lasten staatlicher Verschuldung, der Druck
       hin zu einem legitimierten, transnationalen Institutionengefüge in Europa.
       
       ## Zeit des Ausnahmezustandes
       
       Nicht selten werden derartige Problemkumulationen zur Stunde des
       „Ausnahmezustandes“, an dessen ungewöhnliche Interventionsmöglichkeiten
       sich die Träger der politischen Macht nicht ungern gewöhnen. Denn jetzt
       weitet sich für einen kurzen Zeitraum das politische Spielfeld. Sonst
       sperrige Institutionen dürfen zwischenzeitlich übergangen werden. In einem
       solchen Moment kann man als politischer Anführer einer Nation Geschichte
       machen, so Adenauer in den 1950er, Brandt in den frühen 1970er Jahren, Kohl
       1989/90. Angela Merkel versucht es derzeit ebenso, mit wahrscheinlich
       nachhaltigeren und negativeren Wirkungen als ihre Vorgänger.
       
       Im politischen Establishment setzt jedenfalls niemand ernsthaft jenseits
       politischer Petitessen und gezielt aufgepäppelter Skandale, die das
       enragierte Forenpublikum im Internet über Empörungsventile ablenken sollen,
       auf „mehr Demokratie wagen“. Die Politik offeriert vollendete Tatsachen,
       kleidet sie sodann in das Autoritätsgewand strikt zu befolgender
       Sachrationalität und versucht, sich so die strittige Debatte vom Leib zu
       halten. Das ist die Verhaltensdoktrin gerade in der Europapolitik von
       Trittin über Steinbrück und Rösler bis hin zu Merkel.
       
       Wohl in keiner neuzeitlichen Krise dürfte eine solche Begriffslosigkeit bei
       der Betrachtung von Zukunft, eben bei den Erörterungen über das „Danach“,
       geherrscht haben wie gegenwärtig. Das große wirtschaftspolitische Narrativ
       im Zuge des Debakels der weltwirtschaftlichen Depression in den späten
       1920er, frühen 1930er Jahren war der Keynesianismus. 1973/75, als Rezession
       und Inflation zeitgleich auftraten, verlor die keynesianische Philosophie
       den gewiss interessengeleiteten Kampf der Ideen.
       
       Als Gewinner aus der Rivalität wirtschaftspolitischer Weltanschauungen
       gingen die sogenannten Monetaristen, darunter als Elitetruppe der
       ideologischen Attacke die Angebotstheoretiker der Neoklassik, hervor. Von
       den 1970er Jahren bis in das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hatten
       die Protagonisten dieser Richtung die Ausdeutung von „Fortschritt“ und
       „Reformen“ stringent okkupiert – und ihre Gegner aus der reformistischen
       Linken sind ihnen bei zunehmend schwindender Resistenz gefolgt.
       
       ## Fixierung auf Staat oder Markt
       
       Am Ende war dieser Gegner links der Mitte ideell enteignet; zum Schluss
       vermochte er nicht den geringsten Beitrag dafür zu leisten, die plötzlich
       manifeste Schwäche des Kapitalismus für eine Ökonomie- und
       Gesellschaftstransformation auszunutzen. Zuletzt existierten nicht einmal
       Ansätze eines alternativen Narrativs zum kompromittierten Heilsversprechen
       des „bürgerlichen Lagers“.
       
       Damit scheinen sich nun auch die beiden Großentwürfe für die
       Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik gleichermaßen verschlissen zu haben,
       die marktzentrierte Angebotspolitik wie der versorgungsetatistische
       Keynesianismus. Für den Raum dazwischen sind genossenschaftliche
       Überlegungen und auf Selbsthilfe basierende Konzeptionen des Wirtschaftens
       während der letzten Jahrzehnte rigide verdrängt worden, da alle
       Aufmerksamkeit einzig auf Staat oder Märkte fixiert war.
       
       Was Alternativen zur bürokratisch abgestützten Finanzökonomie sein können,
       ist gänzlich unklar. In einigen Teilen der zivilgesellschaftlich
       unterversorgten Staaten Europas könnte in mittlerer Perspektive vielmehr
       eine Art negative Individualisierung stehen, die nur dann noch zum
       Kollektiv drängt, um äußere Konkurrenten und kulturell Fremde abzuwehren.
       Hier entsteht nichts, was die Einzelnen im Verbund mit anderen noch
       positiv, durch einen motivierenden Entwurf von Gesellschaft in Bewegung
       setzen könnte. Politische Agonie und Statusfatalismus scheinen
       wahrscheinlicher.
       
       8 Apr 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Franz Walter
       
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