# taz.de -- Abtrünnige Muslima: Als sie das Kopftuch ablegte
       
       > Emel Zeynelabidin war einmal eine strenge Anhängerin des Islam. Nun sucht
       > sie im Glauben nach Freiheit und Liebe. Kompromisse macht sie keine mehr.
       
 (IMG) Bild: Emel Zeynelabidin lebt seit sieben Jahren ohne Kopftuch.
       
       Der Elisabethkirche in Marburg ist sie verfallen: groß, gotisch, die
       Fenster dunkelblau. Emel Zeynelabidin kommt oft hierher, in eine Kirche,
       die erst den Katholiken gehörte, dann den Protestanten. Und nun, auf eine
       sehr private Weise, einer Muslima. Sie steht zwischen den Bankreihen und
       zieht ihren Rock nach unten. Er liegt eng um ihre Hüften und endet weit
       überm Knie. „Ich will noch kurz die Kirchenluft atmen“, flüstert sie.
       
       Sie lebt seit ein paar Monaten in Kernbach, einem Dorf unweit von Marburg,
       hinter grünen Hügeln, am Ende einer holprigen Straße. Sie hat kein Auto,
       andere nehmen sie mit, ihre Nachbarin, der Projektleiter ihres Buches,
       Dorfbewohner, die sie anspricht. Am Anfang hatte sie kein Telefon, kein
       Internet und ihr Handy keinen Empfang. Zum Telefonieren musste sie aus dem
       Dorf laufen, auf eine Brücke. Es klingt, als fände sie das lustig, dieses
       Improvisieren.
       
       Es gibt keine Moschee im Dorf, keine islamischen Vereine, also hat sie sich
       mit dem Pfarrer angefreundet, sie besucht Taufen, sie spielt in
       Kirchenspielen die „fremde Frau“ mit dem grauen Schal. Sie ist mit ihrem
       zwölfjährigen Sohn aufs Land gezogen, dem jüngsten ihrer sechs Kinder. Als
       sie kürzlich zurück nach Berlin fuhr, auf Lesereise, wollte er nicht mit.
       
       Emel Zeynelabidin ist bekannt in Berlin. Sie war es schon, als sie noch
       Kopftuch trug, als Tochter von Yusuf Zeynel Abidin, der die deutsche
       Sektion der türkischen Gemeinschaft Milli Görüs gründete, die heute vom
       Verfassungsschutz überwacht wird.
       
       Sie wurde 1960 in Istanbul geboren, kam ein Jahr später nach Deutschland,
       heiratete 1980. Sie wurde die Vorsitzende des islamischen Frauenvereins,
       sie hat den ersten islamischen Kindergarten in Berlin gegründet – eine
       Institution in konservativen islamischen Kreisen. Bis sie ausscherte ein
       Vierteljahrhundert später, ihr Kopftuch ablegte, es dem Haus der Geschichte
       in Bonn übergab.
       
       ## Sie schreibt Essays und gewann einen Preis
       
       Seitdem ist sie erst recht berühmt, berühmt-berüchtigt. Sie schreibt jetzt
       Essays für Die Welt und die FAZ, eine Muslima, die sich über die Strenge
       ihrer eigenen Religion aufregt. Die Christen sind nun ihre Freunde, sie
       loben ihren Mut. 2008 gewann sie als erste Muslima den Lutherpreis „Das
       unerschrockene Wort“. Ein Film wurde über sie gedreht, „Hüllen“, und nun
       erscheint ihr erstes Buch.
       
       Berlin war grauenhaft in letzter Zeit, sagt sie. Vor vier Monaten ist sie
       geflohen. Alle Menschen, die nun bereitwillig ihr Leben bevölkern, kennt
       sie noch nicht lange. Die Einsamkeit bemerkst du erst, wenn du stärker in
       dich selbst eindringst, sagt sie. Aber auch der Weg in dich selbst ist
       einsam. Zweisamkeit ist eine Illusion.
       
       Sie stiefelt durch ihr neues Dorf, zeigt auf das Quellwasser, das aus einem
       Stein sprudelt, spricht über die „Konsumfreiheit“, die sie hier hat, läuft
       zum Aussichtspunkt, grüne Wiesen, tiefer Nebel, Ruhe. „Der Schoß Gottes“,
       sagt sie.
       
       Sie lebt seit sieben Jahren ohne Kopftuch. Vorher sah sie unzugänglich aus
       für einen großen Teil der Deutschen: langer Mantel, bunt gemustertes Tuch,
       um Hals und Schulter, nur das Gesicht frei. Sie sieht alt aus auf Fotos,
       viel älter als heute, die Brauen ungezupft, die Augen ungeschminkt. Hätte
       eine deutsche Frau es je gewagt, mit ihr über Sex zu sprechen?
       
       „Oh Gott, furchtbar“, sagt sie heute. „Man wird ja mit einem fremden Mann
       verheiratet. Unglaubliche Peinlichkeit.“ Zwei Menschen, die sich bis zur
       Hochzeitsnacht nie berührt haben. Es gibt in den Hadithen so eine Stelle:
       Wenn die Frau dem Mann sexuell nicht gefügig ist, dann verfluchen sie die
       Engel. „Das ist unglaublich, oder? Vorher lobt der Prophet das Liebesspiel
       ja noch.“
       
       ## Intensive Recherche im Koran
       
       Als 2004 der Kopftuchstreit in Deutschland auf seinem Höhepunkt war, griff
       Emel Zeynelabidin als Vorsitzende des islamischen Frauenvereins in die
       Debatte ein, um zu vermitteln. Die Folge war eine intensive Recherche im
       Koran.
       
       Sie stieß auf die Offenbarungsgründe, die den historischen Kontext der
       Suren erklärten: Die gläubigen Frauen sollten sich verhüllen, damit die
       Männer sie von den Sklavinnen unterscheiden können. Emel Zeynelabidin
       argumentiert, dass es heute keine Sklavinnen mehr gebe, also wozu die
       Verhüllung? Außerdem glaubt sie, dass erst mit der Einführung der Scharia
       Empfehlungen aus dem Koran auch zu religiösen Pflichten wurden.
       
       Der Islam sei eine problemlösungsorientierte Religion, sagt sie. Und die
       Probleme, die durch die Verhüllung der Frau entstehen, wiegen schwerer als
       die Gründe, die für ein Kopftuch sprechen mögen.
       
       Zeitgleich mit dieser Textexegese geschah noch etwas: Emel Zeynelabidin
       verliebte sich. Sie sagt nicht viel über den Mann. Er sah wohl aus wie ein
       Elch und sie sagt, dass sie sich ihre Faszination so erklärt hat. Aber
       dann: eine solche Sehnsucht. „Hingabe.“
       
       Er hat sich für seine Familie entschieden und er will nicht, dass die
       Öffentlichkeit etwas über ihn erfährt. Körperlich sei nie etwas passiert,
       sagt Emel Zeynelabidin. Aber wenn man diese Hingabe erlebt hat, verändere
       sich alles. „Man wird demütiger.“
       
       Jahre später schreibt sie: „Für mich bedeutet Islam Hingabe, nichts
       anderes. Sich hingeben kann nur die Seele. Sie nimmt den Körper mit. Wer
       die Liebe nicht kennt, kennt keinen Islam.“ Und: „Liebe ist der einzige
       Beweis für die Existenz einer Seele.“ Das Kopftuch, meint sie, verhindere
       Hingabe. Das wollte sie nicht mehr.
       
       Am Anfang ihres „Auswegs“ experimentiert sie mit kreativen Hutmodellen.
       Dann legt sie ihr Kopftuch ganz ab. Gegen den Willen ihrer Familie. Sie
       besucht eine Volkstanzgruppe, lernt, andere Männer anzufassen. Sie macht
       Aikido. Sie geht in ein Schwimmbad, besucht ein gemischtes Fitnessstudio,
       lässt sich scheiden, testet Online-Dating. „Jemanden berühren und berührt
       zu werden ist eine Fähigkeit.“
       
       So wie der Islam ausgelegt wird, unterdrücke er Körperkontakt zwischen Mann
       und Frau und schränke die Menschen fundamental ein. „Glücklich darfst du
       nicht werden, denn das Glück wird aufgehoben fürs Jenseits.“
       
       Die Frage ist nur, sagt Emel Zeynelabidin: Sind die Menschen ohne diese
       Einschränkungen glücklicher?
       
       ## "Ich würde mich gern schminken lassen"
       
       März 2013, es ist kalt in Marburg. Grau. Emel Zeynelabidin sagt, sie will
       Frühling im Gesicht. Also zu Douglas. „Ich habe eine Douglas-Card“, sagt
       sie zur blonden Verkäuferin. „Wir würden uns gerne schminken lassen.“ Die
       Lippen pink, die Lider grün, noch ein wenig Rouge? „Mal sehen, was die
       Männer sagen“, sagt sie voller Vorfreude.
       
       Die Männer sagen nichts, niemand pfeift, niemand dreht den Kopf. Sie
       entdeckt mit fünfzig, dass es teuer ist, Frau zu sein. – Und manchmal
       frustrierend.
       
       „Ich will wissen“, sagt sie auf dem Weg in die Altstadt, „wie man einen
       Mann erobert.“ Nicht fürs Bett, sondern wie man sein Herz erobert. Sie
       fragt ihren Projektleiter, einen Mittdreißiger, einst Student in Marburg:
       „Kann ein Mann Hingabe erleben?“
       
       Ihre Familie hielt sie für verrückt, als sie ihr Kopftuch ablegte, und vom
       Teufel besessen. Emel Zeynelabidin musste zum Exorzisten. Der wollte den
       Teufel vertreiben, sagte aber schlussendlich zur Familie: Sie ist bei
       vollem Verstand.
       
       „Ich bin der Elchtest für Milli Görüs“, sagt sie. „Sie können mich nicht
       ablehnen, aber sie können mir auch nicht zustimmen.“ Es gab schon Lesungen
       mit ihr, da wurden die Veranstalter nervös. Einmal etwa, als mitten in
       ihrem Vortrag drei Menschen zur Tür reinkamen: eine verschleierte Frau und
       zwei Männer mit langen Bärten. In ihrer Mitte trugen sie eine pralle
       Tasche. Sie weiß nicht, wer ihre Feinde sind, sagt sie, aber die permanente
       Öffentlichkeit schütze sie.
       
       Es ist dunkel geworden im Dorf. Emel Zeynelabidin hat Köfte gemacht,
       Hackfleischbällchen, man riecht sie überall in der kleinen
       Erdgeschosswohnung in einem alten Bauernhof. Ihr Sohn steigt manchmal aus
       dem Fenster auf die Straße, wenn er schnell zum Schulbus muss.
       
       Es beginnt zu schneien. Dicke Flocken auf die schmalen Straßen des Dorfes.
       Der Projektleiter ihres Verlages, „Matthias“, hatte sie noch nach Hause
       gefahren. Jetzt nimmt er die Gitarre. Im Regal steht eine Biografie von Cat
       Stevens, der nun Yusuf Islam heißt. Matthias spielt: „In the blackness of
       the night“. Emel Zeynelabidin singt. „In the blackness of the night I seem
       to wander endlessly.“
       
       Draußen leuchtet der Schnee und darüber die Sterne. So klar, wie es nur auf
       dem Dorf geht. „I’m alone and there is no one by my side.“
       
       Wenn du dich positioniert hast in deinem Leben, sagt sie, ziehst du den
       entsprechenden Mann automatisch an. „Alles andere wäre ja so risikobehaftet
       und anstrengend“, sagt sie. „Das wäre ja nicht vollkommen.“
       
       In ihrem Flur steht ein Buch mit leeren Seiten: Auf dem Cover ist ein Elch.
       Er küsst einen Frosch.
       
       Sie würde eigentlich gerne noch ein Kind bekommen. Und einen Tanzkurs
       machen.
       
       22 Apr 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Steffi Unsleber
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