# taz.de -- Wahl in Bulgarien: 18 Euro für ein Kind
       
       > Bulgarien ist das ärmste Land in der EU. In einem Kloster nahe der
       > Hauptstadt Sofia finden Menschen Zuflucht, die sonst nirgends Hilfe zu
       > erwarten haben.
       
 (IMG) Bild: „Ich würde mir wünschen, dass der Staat mehr tut für Kinder und Arbeitslose“: Radosweta Brynkova mit ihrem Sohn Hritos.
       
       NOVI HAN taz| Es ist schwer zu sagen, wer im Innenhof des kleinen Klosters
       in Novi Han lauter gackert: Die drei Dutzend Hühner, die sich in einer Ecke
       neben der steinernen Kirche über ihr Futter hermachen? Oder die fast ebenso
       vielen Kleinkinder, die mit Puppenwagen und Plüschgetier aller Art vor den
       weißen, einstöckigen, mit Holz verkleideten Wohntrakten entlang sausen?
       
       Das Kloster in Novi Han, einem kleinen Ort rund 15 Kilometer von der
       bulgarischen Hauptstadt Sofia entfernt, ist kein gewöhnliches Stift. Seit
       25 Jahren betreibt der landesweit bekannte Pope Ioan hier das Waisenhaus
       „Heiliger Nikolai“. Die meisten, die bei dem Geistlichen Zuflucht suchen,
       sind alleinerziehende Mütter und ihre Kinder, aufgegeben von ihren Familien
       und von der Gesellschaft.
       
       Viele Bewohner von Novi Han aber betrachten das Projekt mit Argwohn - wohl
       auch, weil ein Teil von Pope Ioans Schützlingen Roma sind. Und die lehnt
       ein Großteil der bulgarischen Bevölkerung ab. Deswegen sind früher immer
       mal wieder Proteste aufgeflackert; die Nachbarn wollten die Schließung des
       Heimes erzwingen. Zumindest der offene Widerstand ist jedoch seit etwa
       einem Jahr verstummt.
       
       Heute hat das Kloster speziellen Besuch. Eine kleine Abordnung des Sofioter
       Puppentheaters ist angereist, um Szenen aus seinem neuen Programm
       vorzuführen. Es ist ein nachträgliches Geschenk zu Ostern, das die Bulgaren
       am vergangenen Wochenende gefeiert haben.
       
       Zwei Frauen decken ein aus Holzbrettern gezimmertes Podest mit weißen
       Tüchern ab. Dann schlüpfen sie in wallende, lindgrüne Gewänder, ziehen
       Tierpuppen über ihre rechte Hand und beginnen zu tanzen.
       
       Aus sicherer Entfernung, gestützt auf einen Stock, beobachtet Ljubomir
       Ralschew das Geschehen. Der 81-Jährige mit Stoffhut und Brille hat 40 Jahre
       als Puppenspieler gearbeitet, noch immer organisiert er Aufführungen. „Das
       Puppentheater erzieht die Kinder, damit sie bessere Menschen werden“, sagt
       er. „Es bereitet sie darauf vor, würdige Bürger Bulgariens zu sein.“
       
       ## Die Spenden gehen zurück
       
       Die künftigen würdigen Bürger Bulgariens quittieren das Schauspiel auf der
       Bühne mit Jauchzen und Klatschen. Als eine der beiden Künstlerinnen am Ende
       auch noch kleine Osterhasen aus Teig an die Kinder verteilt, steigt die
       Begeisterung weiter.
       
       Galia Lukanowa hält auch diesen Moment mit einer kleinen Digitalkamera
       fest. Die 55-jährige gelernte Hebamme mit Pferdeschwanz und einer
       beeindruckenden Körperfülle ist hier die Herrin im Haus - vor allem an
       Tagen wie diesem, wenn Vater Ioan nicht da ist. Derzeit leben 80 Personen
       aus allen Teilen des Landes in dem Kloster, sagt sie. Auf einem kleinen
       Landwirtschaftsbetrieb in der Nähe haben zudem 50 Menschen dank Vater Ioan
       ein neues Zuhause gefunden, und weitere 100 in dem Dorf Jakimowo, etwa 180
       Kilometer entfernt .
       
       35 Lewa monatlich ist dem Staat ein Kind wert, umgerechnet knapp 18 Euro.
       Bis Ende des ersten Lebensjahres werden immerhin 100 Lewa gezahlt. Andere
       Einkünfte haben Ioans Schützlinge nicht. „Vom Staat bekommen wir überhaupt
       keine Unterstützung“, sagt Galia Lukanowa.
       
       Alles, was Ioan und sie zu verteilen haben, bringen Privatleute vorbei. Mal
       ein wenig Geld, Holz, Lebensmittel oder gebrauchte Kleidung. Zu Feiertagen
       wird in der Regel mehr gespendet. „Aber in diesem Jahr zu Ostern haben wir
       zum ersten Mal nur Kleidung bekommen“, sagt Lukanowa. Wenn das so bleibt,
       wird es schwierig, das Anwesen auszubauen. „Und das wollen wir unbedingt,
       denn jetzt haben wir keinen freien Platz mehr und noch viele brauchen
       Hilfe.“
       
       Dass die Spendenbereitschaft abnimmt, verwundert nicht. Viele Menschen
       kommen selbst kaum über die Runden. Mehr als sechs Jahre nach dem Beitritt
       zur Europäischen Union ist Bulgarien mit seinen 7,5 Millionen Einwohnern
       immer noch der ärmste Mitgliedsstaat. Das Durchschnittsgehalt liegt bei 350
       Euro im Monat, die Arbeitslosigkeit offiziell bei 12,6 Prozent.
       
       ## 49 Prozent sind von akuter Armut bedroht
       
       Laut eines Berichtes der EU-Kommission vom März dieses Jahres haben 44
       Prozent der Bevölkerung ernsthafte Probleme, ihren Lebensunterhalt zu
       bestreiten. 49 Prozent sind von akuter Armut bedroht, darunter vor allem
       Kinder und Rentner.
       
       Anfang des Jahres gingen Tausende wegen astronomisch hoher Strompreise auf
       die Straße. Sechs Menschen setzten sich selbst in Flammen und starben an
       ihren Verbrennungen.
       
       Unter dem Druck der Proteste trat die Regierung des rechtsliberalen
       Politikers Bojko Borissow im Februar zurück. Am Sonntag wird sich bei den
       vorgezogenen Parlamentswahlen entscheiden, ob die Wähler ihm noch eine
       zweite Chance geben. Oder ob sie der Tradition treu bleiben, jede Regierung
       nach einer Amtszeit in die Opposition zu schicken.
       
       In einem Winkel des Klosterhofes lässt sich ein Mann auf einer wackeligen
       Bank nieder. Er heiße Emilian sagt er, sein Nachname tue nichts zur Sache.
       Emilian ist hager, hat grau meliertes kurz geschnittenes Haar, einen
       Vollbart und einen wachen Blick. Er trägt ein weiß-rotes T-Shirt, eine
       ausgebeulte Hose und Badelatschen. Seit fünfeinhalb Jahren lebt der
       63-Jährige bei Vater Ioan. Vor kurzem, so betont er, hat er das Kloster
       sogar als seinen offiziellen Wohnsitz gemeldet.
       
       Emilian hat lange Jahre gearbeitet, mal als Krankenpfleger und mal als
       Pfarrer. Wenn es sein musste, und so war es oft, hat er auch Straßen
       gereinigt. Jetzt bekommt er umgerechnet 90 Euro Rente im Monat. Dass sich
       Menschen in Bulgarien verbrennen, überrascht ihn nicht. „Als ich Pfarrer
       war, haben sie mir mehr als ein Mal Wasser, Strom und die Heizung
       abgestellt, weil ich kein Geld hatte, um das alles zu bezahlen“, sagt er.
       Dann zeigt er seinen linken Unterarm mit mehreren großen Narben. „Auch ich
       habe so etwas schon mal versucht, aber mich hat Gott gerettet.“
       
       ## Zigaretten aus alten Resten
       
       Als ein Mädchen vorbeikommt, bittet er es, ihm aus seinem Zimmer eine
       Zigarette zu holen. Die sieht aus wie ein überdimensionaler Joint. Emilian
       lächelt. „Abends gehe ich manchmal in den Ort und sammele vor den Bars die
       Kippen ein“, sagt er. „Aus den Tabakresten bastele ich mir dann eine
       Zigarette.“
       
       Im Speisesaal des Kloster hängen bulgarische Volkstrachten an der Wand, in
       der Ecke steht eine alte Singer-Nähmaschine. Drei junge Frauen decken die
       Tische. Es gibt Weißbrot, Kosunak - ein spezielles Ostergebäck - bunt
       gefärbte Eier, Salat, Schafskäse und knallgelbe Limonade.
       
       Mit am Tisch sitzt auch Radosweta Brynkova, auf dem Schoß kauert ihr
       anderthalbjähriger Sohn Hristos. Sie hat dunkles Haar, trägt einen
       verwaschenen Pullover und eine helle Hose, bei der einige Nähte aufgeplatzt
       sind. Radosweata ist 32 Jahre alt, stammt aus der Stadt Burgas an der
       Schwarzmeerküste und lebt seit anderthalb Jahren bei Ioan.
       
       Von Freunden und Verwandten hat sie keine Hilfe zu erwarten. Ihr Bruder
       nahm sich vor acht Jahren das Leben, ihre Mutter ist Alkoholikerin und in
       einem Heim untergebracht. Der Kindsvater ist abgetaucht.
       
       ## Keine Chance für so eine wie sie
       
       Radosweta trägt ihren Sohn in ihr Zimmer im ersten Stock. Das ist zehn
       Quadratmeter groß, es gibt Platz für zwei Betten, einen Stuhl und einen
       Schrank. Auf den Boden verstreut liegen Spielsachen, an den unverputzten
       Wänden kriecht schwarzer Schimmel hoch. „Vater Ioan will jetzt versuchen,
       für mich eine Invalidenrente zu beantragen, denn ich bin manisch-depressiv
       Wenn das klappt, habe ich wenigstens ein wenig Geld für mich“, sagt
       Radosweta.
       
       Eigentlich würde sie aber am liebsten arbeiten, und zwar mit Kindern. Aber
       warum sollte eine wie sie die Chance bekommen, eine Ausbildung zu machen?
       „Ich würde mir wünschen, dass der Staat mehr tut für Kinder und
       Arbeitslose“, sagt sie, „aber dass das passiert, daran glaube ich nicht.“
       
       Emilian sitzt immer noch auf der Bank und genießt die Frühlingssonne. Er
       ist zufrieden, sagt er. Denn er hat ein Zimmer mit einem kleinen Fernseher,
       Licht und einen Heizkörper, der funktioniert. Er bekommt Kleidung und
       regelmässig etwas zu essen. „Was will ich mehr?“, fragt er und hält kurz
       inne. „Früher, da habe ich gelebt wie ein Stück Vieh. Aber hier, hier kann
       ich endlich ein Leben in Würde führen.“
       
       12 May 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Barbara Oertel
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Bulgarien
 (DIR) Bojko Borissow
 (DIR) Schwerpunkt Armut
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