# taz.de -- DDR- und West-Biografien: Bau auf, bau auf!
       
       > Kanzlerin Merkel gehörte in der DDR der FDJ an. Das war so gewöhnlich wie
       > eine ADAC-Mitgliedschaft im Westen. Ähnlich ging es unserer Autorin.
       
 (IMG) Bild: Enthüllung: Ab der 4. Klasse gab's bei den Pionieren rote Halstücher.
       
       Würde man meine Biografie auf Spuren nach Systemtreue oder -nähe in der DDR
       durchleuchten, man würde allerhand vermeintlich Kompromittierendes finden.
       Dutzende von Urkunden und Zeugnisse bestätigen mir einen astreinen
       Klassenstandpunkt, obwohl ich mit dem Sozialismus nichts am Hut hatte.
       
       Mit sieben Jahren habe ich, so steht es im Zeugnis des Oberschulkombinats,
       „aktiv an gesellschaftlichen Arbeiten teilgenommen“. Zwei Jahre später habe
       ich meine Aufgaben als Gruppenratsvorsitzende „vorbildlich“ erfüllt. Mit
       zehn attestierte mir meine Klassenlehrerin, dass ich mich „gut in das
       Kollektiv einordne“. In der fünften Klasse erhielt ich ein Lob, weil ich
       meine Aufgabe als Gruppenratsvorsitzende „stets einsatzfreudig und
       selbständig“ erfüllt habe. In der 8. Klasse wurde mir für meine „große
       Einsatzbereitschaft für die Klasse als FDJ-Sekretär“ gedankt.
       
       Ein Jahr später, auf der Erweiterten Oberschule, hieß es, dass ich „bei der
       Klärung politischer Grundfragen einen parteilichen Standpunkt im
       sozialistischen Sinne vertrat“. Zum Abitur wurden meine Eltern mit einer
       Urkunde beglückwünscht, weil ich mich „aktiv an der Lösung
       gesellschaftlicher Aufgaben beteiligt habe“. Mutti und Papi wurde für ihre
       „Bemühungen um eine bewusste sozialistische Familienerziehung“ gedankt.
       
       Die Zeugnisse erwecken volle Pulle den Eindruck, ich wäre eine
       Hundertprozentige gewesen. Dem war aber nicht so. Die Mehrheit im Osten
       wurde mit solchen Lobhudeleien bedacht, außer man hatte einen
       Ausreiseantrag gestellt oder die DDR in anderer Weise diskreditiert. Trotz
       Papiermangels wurden so viele Belobigungen und Anerkennungen gedruckt, dass
       es kein Wunder war, wenn es nicht immer und überall Klopapier, Servietten
       oder Tampons gab.
       
       ## Zwei Westler haben Merkels Ostvergangenheit entdeckt
       
       Seit Tagen wird, angeführt von der Bild-Zeitung und dem Focus, über Merkels
       mögliches „Zweitleben“ im Arbeiter-und-Bauern-Staat spekuliert, dass selbst
       die seriöse „Tagesschau“ fragt, wie nah Merkel dem DDR-System nun stand.
       Wie ein Sojus-Raumschiff kreist über der mächtigsten Frau im Lande die
       Frage: „Holt sie ihre DDR-Vergangenheit ein?“
       
       Was um alles in der Welt ist passiert? Zwei Westler, ein Journalist von der
       Welt und einer von der Bild, haben eine Biografie über Angela Merkel
       geschrieben, die ostdeutsche Kanzlerin, die im September für eine dritte
       Amtszeit kandidiert. „Das erste Leben der Angela M.“ Der Titel suggeriert,
       Merkel habe möglicherweise Leichen im Keller der untergegangenen DDR.
       
       Als wäre jetzt erst ans Licht gekommen, dass die Kanzlerin 38 Jahre im
       Osten verbracht hat, wird gefragt, wie sehr sie, die weder in der Partei
       noch bei der Staatssicherheit war und nie einen Hehl daraus gemacht hat,
       „ein angepasstes Leben“ geführt zu haben, diese 38 Jahre geprägt haben,
       welche Rolle sie gespielt hat.
       
       Man muss DDR-Biografien zu lesen wissen, wenn nicht, werden aus
       sozialistischen Petitessen „aufschlußreiche, neue, präzisierende Facetten“,
       wie im Fall der Merkel-Biografie, in der die Autoren von „brisanten Fakten“
       sprechen. Jetzt kommt’s: Merkel soll „Funktionärin für Agitation und
       Propaganda“ in der Jugendorganisation Freie Deutsche Jugend, FDJ, gewesen
       sein.
       
       Für „hervorragende gesellschaftliche und schulische Leistungen“ soll sie
       die Lessing-Medaille in Silber bekommen haben. Wäre den Autoren Merkels
       Schwimmabzeichen in die Hände gefallen, hätten sie die möglicherweise als
       Beleg angeführt, dass Merkel ganz oben mitgeschwommen ist in der DDR.
       
       ## Jede Menge Nischen
       
       Natürlich sind die 38 Jahre, die Merkel in der DDR gelebt hat, nicht
       spurlos an ihr vorübergegangen. Das war bei ihr genauso wenig möglich wie
       bei anderen Ostdeutschen. Mitgliedschaften in Massenorganisationen wie der
       FDJ, dem FDGB und der DSF gehören zu den meisten Biografien wie im Westen
       die Mitgliedschaft im ADAC.
       
       Das Leben in der DDR bot jede Menge Nischen, die sich viele Westler bis
       heute nicht vorstellen können. Während meines Sprachstudiums an der
       Karl-Marx-Universität in Leipzig habe ich mehrmals – ohne Arbeitsvertrag
       vom Messeamt und für Westgeld – heimlich auf der Leipziger Messe
       gearbeitet, einmal für Uruguay.
       
       Es war mir ein innerer Vorbeimarsch, als ich ein Gespräch zwischen dem
       Direktor der Messe und dem Botschafter von Uruguay gedolmetscht habe,
       nachdem das lateinamerikanische Land eine Goldmedaille für seine Jeansmode
       bekommen hatte. In einer spanischsprachigen Zeitschrift, die die DDR für
       befreundete lateinamerikanische Länder herausgab, wurde ein Foto gedruckt,
       auf dem ich die Goldmedaille präsentiere. Sieht man nur dieses Foto,
       erfährt man nichts über die Hintergründe, sondern hält mich für ein aktives
       Rädchen im sozialistischen Getriebe.
       
       Noch ein Beispiel gefällig? Während eines Praktikums beim Reisebüro in
       Ostberlin betreute ich Touristen aus Kuba, die mit einer Reise in das
       sozialistische Bruderland DDR ausgezeichnet worden waren. Abends an der
       Hotelbar ließen wir die deutsch-kubanische Freundschaft hochleben, indem
       wir uns bei Rum und Klarem Witze über Castro und Honecker erzählten. Wir
       verstanden uns blendend, weil wir alle wussten, wie der Hase läuft im
       Sozialismus.
       
       Als wir wieder nüchtern waren und die Reise zu Ende, lobten die Kubaner in
       einem Brief an das Reisebüro in der Hauptstadt der DDR meinen Einsatz. In
       meiner Abschlussbeurteilung wurde aus den subversiven Trinkgelagen ein
       Loblied auf den Sozialismus: „In einem Dankschreiben einer Reisegruppe aus
       Kuba an die Generaldirektion des Reisebüros in Berlin kommt zum Ausdruck,
       dass ihre Tätigkeit als Reiseleiterin sehr hoch eingeschätzt wurde. Dabei
       zeigte sie einen festen Klassenstandpunkt, der sich besonders in
       Diskussionen zu politischen Fragen äußerte.“
       
       Vergangene Woche gab es eine hübsche Szene auf der CDU-Veranstaltung „Media
       Night“ im Berliner Konrad-Adenauer-Haus. Angela Merkel kündigte den
       Star-Geiger David Garrett und weitere Musiker an und benutzte das Wort
       „Kapelle“, einen Begriff aus ihrer DDR-Vergangenheit. Sie musste grinsen,
       als ihr das auffiel. Amüsiert schob sie das Wort „Band“ nach. Damit sie im
       Osten und im Westen richtig verstanden wird.
       
       21 May 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Barbara Bollwahn
       
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