# taz.de -- Stalking im Internet: Betreff: Du stirbst
       
       > „Wollen wir Mailfreunde werden?“, fragt der Mann. Sie schreibt ihm eine
       > nette Abfuhr – ein Fehler. Was folgt, sind sieben Jahre Belästigung.
       
 (IMG) Bild: Der Stalker steht nicht vorm Haus und verbreitet dennoch Schrecken.
       
       Der Stalker stand der Bloggerin noch nie gegenüber. Er lauert ihr nicht vor
       der Haustür auf. Er verfolgt sie nicht auf der Straße. Er terrorisiert sie
       nicht mal mit Anrufen. Und genau das ist ihr Problem.
       
       Der Mann schreibt ihr seit sieben Jahren Mails, und er kommentiert Artikel
       auf ihrem Blog. Er macht ihr Komplimente und beschreibt, wie er sie
       ermorden will. „Die Bedrohung ist real, auch wenn er mir all das nicht ins
       Gesicht sagt“, meint die Bloggerin.
       
       Doch gerade weil er ihr nichts ins Gesicht sagt, wird sie ihn nicht los.
       Vor vier Jahren zeigt sie ihn zum ersten Mal an. Erfolglos. Die zuständige
       Staatsanwältin findet nicht, dass der Stalker in seinen Nachrichten
       „tatsächlich die Begehung eines Verbrechens in Aussicht stellt“. Er kenne
       die Frau schließlich nur aus dem Internet.
       
       Genau genommen muss sich die Bloggerin seitdem nicht nur gegen den Stalker
       verteidigen. Sie kämpft an zwei Fronten. Zusammen mit denen, die im
       Internet arbeiten, Freunde treffen und Smalltalk machen, die im Netz zu
       Hause sind, gegen die Skeptiker, denen das Internet unwirklich und
       gefährlich erscheint.
       
       Nach dem Motto: Wer dort seine Zeit verbringt, muss mit Ärger rechnen. Oder
       mit einem Stalker. Die Bloggerin könnte auf diesen Kampf verzichten, und
       sie könnte auf den Stalker verzichten. Sie hat sich das Problem nicht
       ausgesucht. Die Bloggerin hatte vor allem – Pech.
       
       Als der Fremde ihr zum ersten Mal schreibt, bloggt sie seit einem Jahr.
       Ihren Lesern erzählt sie viel Privates, aber nichts Brisantes: Geboren im
       September 1980, wohnt mit ihrem Freund und zwei Katzen in einem Dorf im
       Rheinland. Sie empört sich über die Vorratsdatenspeicherung und arbeitet
       als selbstständige Mediengestalterin. Vor allem entwirft sie
       Internetseiten.
       
       ## Die Frage nach dem Dreck
       
       Kurz bevor der Mann auf ihr Blog stößt, fragt er sich, welches Geschlecht
       auf der Toilette mehr Dreck hinterlässt. Die Antwort sucht er auf Google,
       die Suchmaschine verweist ihn auf einen Artikel der Bloggerin: Sie ekelt
       sich vor der Toilette im Büro eines Auftraggebers. Eine Mitarbeiterin
       vergisst nämlich regelmäßig, die Spülung zu drücken. „Wie gerne würde ich
       sie mit der Nase tief in ihre Hinterlassenschaft tunken“, schreibt sie.
       
       Dem Fremden gefällt ihre Wortwahl. Er klickt sich durch ihr Blog, nebenbei
       trinkt er Bier. Um 23.14 Uhr schickt er seinen ersten Kommentar ab.
       
       Was denkst du, wollen wir Mailfreunde werden? Ich bin 33 Jahre alt, bin
       nicht verheiratet, war es noch nie, fahre einen ausgebleichten und 17 Jahre
       alten 5-er BMW. 
       
       „Spinner“, denkt sich die Bloggerin. Nach drei Tagen schreibt sie ihm eine
       lange Antwort. Eine nette Abfuhr. Heute weiß sie: Wer sich einen Stalker
       vom Hals halten will, sollte ihm möglichst wenig Aufmerksamkeit schenken.
       „Ich hätte ihn ignorieren sollen. Aber ich konnte ja nicht ahnen, dass er
       mich sieben Jahre lang verfolgen wird.“
       
       ## Ein Elektriker ohne Arbeit
       
       Der Mann schreibt weiter, vor allem über sich selbst. Dass er als
       Elektroniker arbeitete, dann krank wurde und seinen Job verlor. Er wohnt
       allein, hat wenig Freunde. Wenn er nüchtern ist, hat er sich unter
       Kontrolle. Als er wieder getrunken hat, schickt er der Bloggerin ein Foto
       und betont, dass er gute Zähne hat.
       
       Hast du einen Freund, so sexuell gesehen? Ich bin solo und würde dich gerne
       heiraten! 
       
       Sie möchte nicht. Diesmal antwortet sie kurz und deutlich: Er solle sie
       bitte in Ruhe lassen.
       
       Er schreibt weiter, immer anonym. Die Bloggerin ignoriert ihn und löscht
       seine Nachrichten. Sie bloggt über Günter Wallraffs neue Reportage und
       ihren Urlaub in Las Vegas. Den Fremden erwähnt sie mit keinem Wort. Dann,
       irgendwann im Jahr 2007, gibt er plötzlich Ruhe. „Für mich war die Sache
       erledigt“, sagt die Bloggerin heute. „Ich hatte eine Zeit lang einen
       komischen Kauz am Hals, und nun war er weg.“
       
       ## Er las alles
       
       Er war die ganze Zeit über da. Er las alles, was sie schrieb. Er hielt nur
       still, warum auch immer. Nun legt er wieder los, und zwar richtig. Früher
       nervte er die Bloggerin, jetzt macht er ihr Angst.
       
       Am Flussufer lege ich dir den Mühlstein um den Hals. Und dann nur ein
       kleiner Sprung und alles ist vorbei. 
       
       Der Stalker kann mit einem Klick herausfinden, wo sie wohnt. Name und
       Adresse stehen im Impressum. Weil sie nicht weiß, wie sie reagieren soll,
       fragt die Bloggerin die Polizei. Über die „Internetwache“, ein
       Onlineformular. Sie denkt, dass sie dort Fachleute erreicht.
       
       Aber die Cybercops leiten ihre Anfrage an einen Beamten der örtlichen
       Polizeiwache weiter. Der wertet ihre Anfrage als Anzeige gemäß § 238 StGB –
       Nachstellung – und lädt die Bloggerin zur Zeugenvernehmung. „Da hat er mir
       erzählt, dass es im Internet keine Regeln gebe“, sagt sie. „Und dass man
       den Absender einer E-Mail eh nicht ermitteln könne.“
       
       ## Kein Kontakt mehr
       
       Seine Kollegen wissen es besser und finden den Stalker. Auf dem Revier
       verspricht er ihnen, die Bloggerin nie wieder zu kontaktieren. Dann fährt
       er nach Hause und schickt den nächsten Kommentar ab.
       
       Sag mal spinnst du, was fällt dir ein mich anzuzeigen? Als ob ich nicht
       schon Probleme genug hätte, ey. Küss mich lieber, wenn du sonst nichts zu
       tun hast. 
       
       Die Bloggerin schreibt über ihre erste Falte. Die Staatsanwältin stellt das
       Verfahren ein. Als Stalker gilt nur, wer „die Lebensgestaltung des Opfers
       schwerwiegend beeinträchtigt“. Das Verhalten des Mannes sei aber höchstens
       „unschön und/oder lästig“. Schließlich könne die Bloggerin das Problem
       selbst lösen – „durch Schließung des Blogs“.
       
       Das kommt für sie nicht infrage. Mit dem Blog wäre es ja nicht getan. Damit
       der Stalker sie nicht mehr erreicht, müsste alles weg: Die Homepage ihrer
       Firma, ihr Facebook-Profil, ihr Twitter-Account. „Ich arbeite im
       Homeoffice, und das Internet ist mein Großraumbüro. Die Menschen dort sind
       wie Kollegen“, sagt die Bloggerin.
       
       ## 30 Mails in einer Nacht
       
       Zur Sicherheit entfernt sie ihren Namen aus dem Impressum und
       veröffentlicht nur noch freigeschaltete Kommentare. Der Stalker schreibt
       trotzdem weiter. Sie sperrt sein Pseudonym. Er legt sich ein neues zu. Sie
       blockiert seine IP-Adresse. Er weicht auf E-Mails aus.
       
       DU hättest längst erkennen müssen, dass ich kein Nachsteller bin. Und wenn
       du wieder nicht antwortest, dann komme ich nicht umhin, dich bis an mein
       Lebensende zu fragen … 
       
       16 Nachrichten im August. 16 im September, 9 im Oktober. Die Bloggerin
       denkt, sie müsse damit leben. Der Stalker erhöht die Schlagzahl. 144
       Nachrichten im Monat, 30 in einer einzigen Nacht.
       
       Betreff: Du stirbst wenn ich es will. 
       
       Die Bloggerin ruft eine Anwältin an, die sich mit Stalkern auskennt. „Sie
       hat von einer Anzeige abgeraten, weil er noch nie vor meiner Tür stand“,
       sagt die Bloggerin. Aber die Anwältin beantragt Akteneinsicht, und so kommt
       ihre Mandantin an die Daten des Mannes, der sie seit fünf Jahren belästigt.
       Name, Geburtstag, Adresse.
       
       ## Kein Wort zuviel
       
       Den Ortsnamen hat die Bloggerin noch nie gehört. Sie könnte ihn
       nachschlagen und würde erfahren, dass der Stalker in einem anderen
       Bundesland lebt, 227 Kilometer entfernt. Aber sie macht es nicht. Einmal,
       Monate später, wird sie seine Adresse bei Google Maps eingeben. Doch noch
       während die Seite lädt, wird sie das Fenster wieder schließen. „Ich habe
       gelernt, solche Sachen von mir fernzuhalten“, sagt sie.
       
       Noch etwas hat sie gelernt: ihre Worte genau abzuwägen. Manchmal zu genau.
       Bevor sie einen Artikel veröffentlicht, löscht sie die Hälfte ihrer Sätze.
       Bloß nicht zu viel offenbaren. Überhaupt bloggt sie nur noch selten. Wenn
       doch, dann meist Unverfängliches: Kochrezepte.
       
       Ihren wichtigsten Artikel wägt die Bloggerin besonders genau ab. Den ersten
       Satz tippt sie am Sonntagnachmittag. Als sie den Computer ausschaltet, ist
       es nach Mitternacht. Diesmal geht es nicht ums Kochen.
       
       ## Ein Weckruf
       
       Ein erfolgreicher Stalker bringt sein Opfer zum Schweigen. „Es liegt nicht
       in meiner Natur, stillzuhalten“, sagt die Bloggerin. Aber genau das tat sie
       jahrelang. Dass sie ihr Schweigen bricht, liegt an einem Hashtag auf
       Twitter. Unter dem Stichwort „#aufschrei“ berichten Tausende Frauen über
       Anmache, Belästigung und Vergewaltigung. Ein Weckruf. Die Bloggerin macht
       mit, schreibt über ihren Stalker und verlinkt auf seine neueste Nachricht.
       
       Wenn du nicht bald schwanger wirst, schick ich dir was im Brief. 
       
       Mehr als 200 Leser kommentieren den Artikel. Einer von ihnen empfiehlt ihr
       einen neuen Anwalt. Einen, der sich im Internet auskennt.
       
       Der Anwalt schreibt eine Anzeige. Diesmal soll die Justiz verstehen, worum
       es geht: Dass die Bloggerin schlecht einschläft, wenn der Stalker ihr
       droht. Dass sie Geld verliert, wenn sie auf dem Blog nicht für ihre Firma
       wirbt. Dass das Internet kein Spielzeug ist, sondern Teil ihres Lebens.
       Dann beantragt er eine einstweilige Verfügung gegen den Stalker, ein
       Kontaktverbot für die nächsten sechs Monate. Er wird es bekommen.
       
       ## Er macht sich strafbar
       
       Als sich der Stalker vier Wochen später an seinen Computer setzt, weiß er,
       was er riskiert. Noch ein Kommentar, und er macht sich strafbar. Er
       schreibt.
       
       Ich werde hier niemals mehr einen Eintrag machen, ich denke darüber bin ich
       endlich hinweg. Vergessen wir es, OK? Ein Mann, ein Wort. 
       
       An diesem Abend schickt er der Bloggerin noch fünf Nachrichten. Falls sie
       sich jemals freut, von ihm zu hören, dann heute.
       
       Der Stalker verstößt gegen eine gerichtliche Anordnung, er könnte dafür ins
       Gefängnis kommen, und danach wird er sich vielleicht nie wieder melden.
       Nach sieben Jahren ist das alles, was die Bloggerin will. Sie will keine
       Heiratsanträge mehr und keine Morddrohungen. Sie will sich nicht dafür
       rechtfertigen, dass sie im Internet schreibt. Und sie will nicht
       stundenlang abwägen, was sie ins Internet schreibt. Sie will nur in Ruhe
       bloggen.
       
       24 Jun 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tobias Schulze
       
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