# taz.de -- Knapp überm Boulevard: Kunst kann beglücken!
       
       > Der Klotz ruft: Ein Berg aus Styropor lädt in Wien zum Besteigen,
       > Abgraben und Aushöhlen. Das erwachsene Publikum ist begeistert.
       
 (IMG) Bild: Die Gruppe Gelatin trotzt dem Styropor Bilder des Alpinen ab.
       
       Wann hatten Sie ihr letztes wirkliches Kunsterlebnis? Eben. Aber kürzlich
       habe ich es tatsächlich wieder erlebt: Kunst kann beglücken. Da hat die
       Gruppe „gelitin“ (die vielleicht auch „Gelatin“ heißt) einen haushohen
       weißen Block aus Styropor im Atrium des Wiener 21er Hauses aufgestellt, um
       eben diesen sechs Tage lang vor Publikum abzubauen. Angeseilt, so richtig
       mit Karabinern und allem – die Künstler bewegen sich ja in beträchtlicher
       Höhe –, versehen mit Eispickeln, Bohrern, Heißdraht und Messern werken sie
       auf diesem Berg.
       
       Sie graben ihn ab, dringen in ihn ein, bohren Löcher – LOCH ist übrigens
       auch der Name des Events – und Hohlräume, die zu Gussformen für
       Gipsplastiken werden. Kurzum: Sie betreiben Bergbau, eine Tagebaumine vor
       Publikum, meinte ein Kommentator. Solch ein Bergbau in einem Land, das sich
       so massiv auf seine Natur beruft, wo die Alpen nicht nur ein natürliches,
       sondern auch ein kulturelles Zentrum sind, wo die Bergwelt ein eigenes und
       wesentliches symbolisches Universum bildet!
       
       In so einem Land errichten „gelitin“ einen künstlichen Berg aus einem
       Material, dem so gar nichts Naturidentisches mehr anzuhaften scheint.
       Dieser künstlerische Berg ist eine eigene Art von „Nachbildung“: weder eine
       realistische – er sieht ja nicht aus wie ein Berg, sondern wie ein White
       Cube, der als Berg benutzt und abgetragen wird, noch eine abstrakte – das
       Ding steht ja da wie ein Klotz. Es markiert nicht nur einen Berg, es ist
       ein Berg in der Kunstwelt.
       
       ## Zerhacken und zerlegen
       
       Und wie sie da oben herumklettern, hantieren und unter großem Aufwand (und
       mit pionierhaftem Gestus) mehrfach mit Seilen versehene einzelne große
       Blöcke aus dem Styropor brechen und diese dann aus der lichten Höhe ganz
       langsam bis zum Boden abseilen! Am Boden machen sich dann Leute daran,
       diese Blöcke zu zerhacken, zu zerlegen, zu zerteilen – wie Goldschürfer,
       die den Stein zu durchdringen versuchen, auf der Suche nach dem Schatz, der
       in ihm verborgen ist.
       
       Hier aber ist die Aktion des Zerlegens selbst der Schatz und irgendwann
       macht man mit, macht sich auch an den Block und versinkt im Styropor. Hier
       sieht man, wird die Museumsdirektorin später sagen, dass Kunst harte Arbeit
       ist – eine doppeldeutige Bemerkung. Denn das, was „gelitin“ unter großer
       Anstrengung in luftiger Höhe produzieren, sind vor allem Bilder: Sie haben
       dem Styropor Bilder des Alpinen abgetrotzt, Bilder einer Bergkultur, die
       über dem ganzen Land liegt und die hier, in dieser künstlichen,
       künstlerischen Natur wiederholt und freigelegt werden.
       
       Wiederholt als Naturbilder, die statt der Ausgeliefertheit des Menschen an
       die Natur die Kontrolle des Künstlers übers Styropor setzen; freigelegt
       wird die Bergkultur, wenn die Bergarbeiter auch mal in zerrissenen
       Damenstrümpfen und mit roten High Heels auf die Blöcke einhämmern. Das ist
       alpinistisches Bildhauern und bildhauernder Alpinismus. Kurzum – das ist
       Kunst fürs Alpenvolk.
       
       ## Man sieht nur lachende Gesichter
       
       Damit zeigen „gelitin“, was Kunst im besten Fall kann – einen eigenen Raum
       herstellen. Man betritt das Museum und ist in einer anderen Welt, in einem
       Raum, in dem nicht Stein, sondern Styropor, kein Berg, sondern ein White
       Cube die Umwelt bilden, in dem das Abseilen der Blöcke (begleitet von
       Livemusik) zu einem wirklichen Ereignis wird – ein Raum also, völlig
       erfunden und entworfen, eine Freiheit hat und eine Freiheit eröffnet, die
       sich unmittelbar erschließt: Man kommt herein und ist sofort einfach
       glücklich.
       
       Es macht nicht nur die Natur glücklich. Auch das Künstliche kann – wenn es
       denn künstlerisch ist – glücklich machen. Es geht offensichtlich allen im
       Publikum so, denn man sieht nur lachende Gesichter.
       
       Am nächsten Tag kommt man dann wieder, um zu sehen, wie die Arbeit
       vorangegangen ist. Man kommt wieder, um zu sehen, ob der Berg schon
       abgetragen wurde. Vor allem aber kommt man wieder, um in diesen glücklichen
       Freiraum einzutauchen. Am Schluss habe ich zwei Trümmer geschultert und
       mitgenommen. Ich weiß gar nicht, ob man das durfte. Jetzt stehen sie
       jedenfalls bei mir zu Hause – zwei Skulpturen aus Styropor.
       
       1 Jan 1970
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Isolde Charim
       
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