# taz.de -- Grenzen des brasilianischen Modells: Generalstreik für Nachhaltigkeit
       
       > Wirtschaftliche Missstände in Brasilien bleiben bestehen – trotz im
       > internationalen Vergleich guter Wirtschaftsdaten. Die Gewerkschaften
       > rufen zum Protest auf.
       
 (IMG) Bild: Ressourcenvernichtung: ehemaliger Regenwald im Amazonasgebiet.
       
       RIO DE JANEIRO taz | Demonstranten haben es leichter als
       Wirtschaftspolitiker. Eine der zentralen Forderungen während der
       Massenproteste der vergangenen Wochen war „Mehr Geld für Bildung und das
       öffentliche Gesundheitssystem“. Nur wenige Meter dahinter plädierte ein
       Pappschild für „Null Steuern“. Wovon die öffentliche Hand ohne
       Steuereinnahmen die anderen Forderungen bezahlen soll, müssen die
       Protestierenden nicht erklären.
       
       Zur Verwirrung tragen auch die Medien bei. Die pauschale Kritik an
       „Korruption“ und der Unmut auf der Straße über politische Institutionen
       sowie Parteien interpretieren sie vorschnell als Aufschrei gegen
       Misswirtschaft. Zwar ist richtig, dass der langjährige Aufschwung der
       brasilianischen Wirtschaft ins Stocken geraten ist.
       
       Doch die eventuellen Folgen sind noch nicht zu spüren. Es ist vielmehr die
       grassierende Immobilienspekulation im Vorfeld von Fußball-WM und
       Olympischen Spielen, die viele Menschen zwingt, in weniger teure
       Stadtviertel umzuziehen. Und die Preissteigerung bei Lebensmitteln, die
       sich im Alltag bemerkbar macht, ist alles andere als ein nationales
       Problem.
       
       Die Bilanz der Wirtschaftspolitik der Mitte-links-Regierung von Präsidentin
       Dilma Rousseff schneidet im internationalen Vergleich gut ab. Die Einkommen
       steigen, die Arbeitslosigkeit ist auf einem historischen Tiefststand. Mit
       den Einnahmen aus höheren Steuern und dem Export von Rohstoffen werden
       Sozialleistungen finanziert, die neben dem Entstehen einer neuen
       Mittelschicht auch die Binnennachfrage stärken. Der Einklang von
       Wirtschaftswachstum mit mehr sozialer Gerechtigkeit ist einer der Gründe,
       warum die Arbeiterpartei PT eine Regierung stellt, die seit bald elf Jahren
       überdurchschnittliche Beliebtheitswerte verzeichnen kann.
       
       ## Bestechliche Stadtverwaltungen
       
       Jetzt versucht die rechte Opposition, aus der breiten Kritik an Politik und
       Regierenden Kapital zu schlagen. Dabei übergeht sie, dass die Missstände in
       den mehrheitlich rechts regierten Ballungszentren wenig mit der
       Wirtschaftskraft des Landes zu tun haben. Es sind vielmehr die falschen
       Prioritäten der meist korrupten Stadtverwaltungen, die das Missverhältnis
       zwischen öffentlichen Dienstleistungen und nationalem Wohlstandsgefühl
       entstehen lassen.
       
       Fraglos hat die Wirtschaftspolitik der PT-Regierung auch Fehler begangen.
       Ein blinder Glaube an die staatliche Steuerung der Binnennachfrage
       verleitete Rousseff dazu, die Automobilindustrie konsequent zu
       subventionieren. Die Steigerung der Neuzulassungen liegt in vielen Städten
       bei jährlich zehn Prozent und ist einer der Gründe für das urbane
       Verkehrschaos, das die Menschen Mitte Juni auf die Straßen brachte.
       
       Das Erfolgsmodell Brasilien kommt langsam an seine Grenzen, wobei auch
       externe Faktoren eine Rolle spielen. Die Währung brach um fast 20 Prozent
       ein, auch weil das Auslandskapital in der Hoffnung auf einen neuen
       Aufschwung Richtung USA abwandert. Damit verteuern sich die Importe und
       heizen die Inflation weiter an, die seit langem um die Sechs-Prozent-Marke
       schwankt.
       
       ## Wachstum um jeden Preis
       
       Schwerwiegender ist noch, dass – wie viele Nachbarländer mit
       fortschrittlichen Regierungen – auch Brasilien darauf setzt, die
       Sozialpolitik mit Wachstum um jeden Preis zu finanzieren. Förderungen gehen
       an die industrielle Landwirtschaft zum Export von Futtermitteln, Gentechnik
       wird billigend in Kauf genommen. Ökologisch fragwürdige Staudammprojekte
       haben ebenso Priorität wie der Export von Rohstoffen. Nachhaltiges
       Wirtschaften ist unter Rousseff kein Thema.
       
       Gegen diese althergebrachten Missstände, die auf den Demonstrationen kaum
       Erwähnung fanden, rufen Gewerkschaften und sozialen Bewegungen für den
       heutigen Donnerstag zu einem Protesttag mit Generalstreik auf.
       Verstaatlichung des öffentlichen Nahverkehrs, Stopp der
       Privatisierungstendenz im Bildungsbereich, Landreform und Förderung der
       ökologischen Landwirtschaft sind einige der nicht neuen Forderungen.
       
       Es ist davon auszugehen, dass viele der Anhänger der neuen Protestwelle zu
       Hause bleiben werden. Sie kritisieren lieber die Politik, als politische
       Forderungen zu stellen.
       
       11 Jul 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Behn
       
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