# taz.de -- Kulturpolitik im russischen Uralgebiet: Zarenkitsch im Live-Stream
       
       > Weit ab von Moskau kämpfen im Uralgebiet Kulturinstitutionen um
       > Unabhängigkeit. Die Philharmonie in Jekaterinburg zeigt, dass sich der
       > Kampf lohnt.
       
 (IMG) Bild: Ganz dominant: die Kathedrale „Auf dem Blut“ und daneben, an den Rand geduckt: die Philharmonie (r.) in Jekaterinburg.
       
       Aus Russland kommen in letzter Zeit vorwiegend schlechte Nachrichten im
       Westen an. Putin geht nicht nur rigoros gegen politische Gegner vor, er
       lässt auch in der Kulturpolitik die Muskeln spielen. Erst kürzlich wurde in
       Perm in der Uralregion der experimentierfreudige Museumschef Marat Gelman
       entlassen und das renommierte Festival „Pilorama“ abgesagt. Nicht zufällig
       traf es gleich zweimal die Uralregion. Denn 2.000 Kilometer östlich von
       Moskau blüht das Kulturleben in allen Bereichen.
       
       Nichts beschreibt die widersprüchliche Situation der Region besser als die
       Philharmonie in der 1,5 Millionenstadt Jekaterinburg: Das Gebäude aus den
       Dreißigern liegt an der Karl-Liebknecht-Straße, unweit der „Kathedrale auf
       dem Blut“, die erst vor wenigen Jahren dort errichtet wurde, wo 1918 die
       Zarenfamilie ermordet wurde.
       
       Neben der Philharmonie ist auf der loggiaartigen Terrasse eine Shisha-Bar,
       in der die Jugend mit Laptops abhängt, links davon Jekaterinburgs bestes
       Restaurant „Crepe de Chine“, in dem die gut Betuchten sterneverdächtige
       Crossover-Küche genießen.
       
       ## Durchsaniertes Konzerthaus
       
       Das Konzerthaus ist blitzblank saniert, von den frisch restaurierten
       Wandmalereien im Stil des sozialistischen Realismus bis zu den
       Sanitäranlagen. Das hätte man nicht erwartet im fernen Ural, in einer
       Stadt, die bis 1991 zu den „verbotenen“, da für Reisende geschlossenen
       Zentren des Schwermaschinen- und Rüstungsbaus des Sowjetreichs gehörte.
       
       Die riesige Maschinenbaufabrik Uralmash – mitten in der Stadt! – ist noch
       in Betrieb. Sie war ein Hauptsponsor der Philharmonie. Pro Saison 265
       Konzerte finden hier statt, die Auslastung liegt bei traumhaften 95 Prozent
       und dem dort ansässigen Ural Philharmonic Orchestra eilt ein legendärer Ruf
       voraus. Es soll eines der besten, wenn nicht sogar das beste Orchester
       Russlands sein.
       
       Zum Abschluss der Saison gibt es ein kleines Festival: vier Konzerte mit
       russischen Programmen, der Philharmonische Chor ist beteiligt und das
       siebzigköpfige Jugendorchester. Tatsächlich ist der Klang des jungen, mit
       vielen Frauen besetzten Klangkörpers brillant, unglaublich homogen, wuchtig
       und doch transparent.
       
       Chefdirigent Dmitri Liss verließ 1995 Moskau, um das Orchester in
       Jekaterinburg zu formen, schon damals „war die Qualität unglaublich“. Liss
       ist ein feinsinniger Mensch, der leise spricht und unaufgeregte, aber
       präzise Gesten einsetzt. Auch bei Tschaikowskis martialischer Ouvertüre
       „1812“, wenn zu dem Apparat auf der Bühne noch Dutzende Blechbläser zu
       koordinieren sind, verliert er nicht den Überblick.
       
       Liss ist der künstlerische Kopf der Philharmonie. Der Macher aber des
       musikalischen Wunders von Jekaterinburg ist Alexander Kolotkursky. Hier
       würde man ihn Intendant nennen, in Russland gibt es diesen Titel nicht. In
       Koloturskys Büro hängen Zertifikate von Management-Crash-Kursen in den USA,
       doch darauf angesprochen, winkt er ironisch ab. Damit komme man im Ural
       nicht weit.
       
       ## Kein Kampf mit der Macht
       
       Kolotkursky jongliert mit vielen Bällen: Er pflegt gute Verbindungen, man
       lässt ihn in Ruhe. „Ich kämpfe nicht mit der Macht“, sagt er sibyllinisch
       lächelnd. Er hat ein riesiges Netzwerk aufgebaut, der Freundeskreis der
       Philharmonie zählt sagenhafte 24.000 Mitglieder, ein ganzer Stab von
       Mitarbeitern tut nichts anderes, als das Netzwerk zu pflegen und „Geld auf
       der Straße aufzusammeln“, wie Chef-Netzwerkerin Alla Petrova-Lemachko sagt.
       
       Als Kolotkursky vor dreißig Jahren die Arbeit an der Philharmonie aufnahm,
       hatte er die üblichen Probleme: „Der Saal war kaum halb voll und
       überwiegend alte Leute.“ Heute ist das Publikum jung, allein 35 Mitarbeiter
       kümmern sich um pädagogische Programme.
       
       Doch damit nicht genug: Im Laufe der Jahre hat Kolotkursky sieben weitere
       Filialen aufgebaut, seit 2005 gibt es 25 virtuelle Filialen bis tief in den
       Ural, in die Konzerte via Live-Stream übertragen werden. Meist versammelt
       sich das Publikum in den örtlichen Bibliotheken. Pro Standort investiert
       Kolotkursky 5.000 Euro in die Technologie, der Besuch der 47
       Konzertübertragungen pro Saison ist kostenlos.
       
       Wie geht das alles zusammen? Zaren-Nostalgie und Kulturarbeit des 21.
       Jahrhunderts? Kolotkursky sieht da keinen Widerspruch: „Der Geschichte
       wenden wir uns erst jetzt zu und analysieren, was eigentlich passiert ist.
       Aber der Weg geht hin zu einer offenen Gesellschaft, nicht zurück.“ Im
       September gastiert das Orchester aus Ekaterinburg erstmals in Deutschland
       beim Bonner Beethovenfest.
       
       22 Jul 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Regine Müller
       
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