# taz.de -- Blogger Navalny und das Putin-Regime: „Wagt es ja nicht!“
       
       > Fünf Jahre Lagerhaft. So lautete das Urteil für den russischen Blogger
       > Alexei Navalny. Es zeigt, wie Putins Herrschaft sich brutalisiert hat.
       
 (IMG) Bild: „Nieder mit den Kreml-Leuten!“ lautet Navalnys Slogan. Und doch ist der Blogger Teil des Systems.
       
       Manche Ereignisse und auch manche Personen machen plötzlich sichtbar, wie
       es um die allgemeine Stimmungslage und wie um die Absichten der Autoritäten
       bestellt ist – kurzum, in welche Richtung sich ein Land bewegt. Alexei
       Navalny ist so eine Person. Der in Russland populäre und gerade einmal 37
       Jahre alte Rechtsanwalt dokumentiert und geißelt seit 2008 auf seinem Blog
       [1][livejournal.com] die staatliche Korruption. 2012 wurde er im Internet
       zum Oppositionsführer gewählt.
       
       Dass ganz unterschiedliche Segmente vor allem der urbanen Bevölkerung mit
       dem jungen Blogger sympathisieren, zeigt, wie sehr man sich in Russland
       wünscht, dass endlich ein neues Gesicht auf der politischen Bühne
       auftauchen möge. Navalny, sein Kampf gegen die Korruption und seine
       aktuelle Kandidatur für das Moskauer Bürgermeisteramt werden von der jungen
       Generation, aber auch von denjenigen unter den Älteren, die das Internet
       als Informationsquelle nutzen, so genau beobachtet wie kein anderes
       Ereignis.
       
       Und auch die politischen Überzeugungen von Navalny selbst lassen keinen
       Zweifel daran, dass hier ein Politiker mit Potential aufgetaucht ist. Und
       doch ist Navalny ein Vertreter des russischen Systems, wenngleich in
       moderner, quasi in upgedateter Form. Denn auch er setzt auf den Führerkult.
       Er will die gegenwärtigen Machthaber ablösen, die von ihnen aufgestellten
       Regeln der Macht stellt er jedoch nicht in Frage. Fairerweise muss man
       hinzufügen, dass Navalnys politische Entwicklung noch nicht abgeschlossen
       ist. Es gibt also noch einige Unbekannte in dem Prozess, der vor vier
       Jahren begonnen hat.
       
       Seine Verurteilung zu fünf Jahren Lagerhaft wegen Unterschlagung zeigt aber
       schon jetzt, wie das Regime seit 2012 arbeitet. In diesem Jahr kehrte Putin
       als Präsident in den Kreml zurück und musste feststellen, dass er ein
       verändertes Land zu regieren hat. Es wird immer deutlicher, dass Russland
       keine ernsthafte soziale und ökonomische Entwicklung machen kann, wenn der
       Kreml weiter so undurchlässig bleibt, sich nicht für die Probleme des
       Landes öffnet und dann natürlich auch keine Antworten auf drängende Fragen
       anzubieten hat.
       
       Die russische Gesellschaft ist in Bewegung gekommen, übersättigte
       Konsumenten haben sich zu Bürgern entwickelt, und auch die
       sozioökonomischen Ansprüche der weniger gut Gestellten steigen. Putin ist
       mächtig, aber er hat nicht mehr allein das Sagen: Zum ersten Mal seit zehn
       Jahren melden auch andere Politiker einen Führungsanspruch an.
       
       ## Auf dem Weg zur totalen Repression
       
       Entsprechend hat sich seine Art zu regieren beachtlich verändert. So wird
       der ehemals weiche Autoritarismus, der auf der Imitation des Westens und
       der Kooperation mit ihm basierte, nach und nach ersetzt durch eine
       Regentschaft, die allein auf Repression setzt und darauf, den Westen
       irgendwie ruhig zu stellen.
       
       Noch ist das Regime nicht vollends in der totalen Repression angekommen,
       aber es befindet sich klar auf dem Weg dorthin. Putin verlangt heute die
       absolute Loyalität. Anders als früher ist er nicht mehr in der Lage, mit
       egal welcher Kritik oder auch nur mit Meinungsvielfalt umzugehen.
       
       Daher sendet Navalnys Verurteilung an die denkende Minderheit und die
       Opposition die Botschaft: „Wagt es ja nicht!“ Seine Fähigkeit, auf
       Herausforderungen auch konstruktiv zu reagieren, hat sich offensichtlich
       erschöpft und er sieht sich gezwungen, auf brutale Machttechniken
       zurückzugreifen. Damit kündigt sich der Niedergang des Putin-Regimes an.
       Zugegeben, der kann lange dauern – und noch vermag niemand zu sagen, was
       danach kommt.
       
       Jetzt ließe sich einwenden, dass Navalny doch trotz seiner Verurteilung
       nicht inhaftiert wurde. Und es stimmt ja, seine Freilassung war eine
       Überraschung – für ihn genauso wie für seine Anwälte. Zeigt das also nicht,
       dass das Regime etwas milder wird? Reagiert Putin damit nicht auf die
       Empörung in der russischen Gesellschaft über den Schauprozess gegen Navalny
       ebenso wie auf die Kritik der westlichen Regierungschefs?
       
       Tatsächlich hat man in Moskau die Kritik der eigenen Leute und auch im
       Ausland zur Kenntnis genommen. Aber zumindest bislang führten vor allem
       andere Faktoren zu der gegenwärtigen Lage, die durchaus bizarr ist.
       Offenbar hat sich die regierende Elite entschlossen – und der amtierende
       und sich zur Wiederwahl stellende Moskauer Bürgermeister Sergei Sobyanin
       repräsentiert sie – Navalny zu benutzen, um die Wahlen als fair erscheinen
       zu lassen.
       
       Aber wird damit nicht die repressive Logik der Administration unterlaufen?
       Nein, eben nicht! Sobyanin leiht sich Navalny nur aus, um seine Agenda
       durchzusetzen. Sobald Navalny die Rolle des Gegenkandidaten absolviert hat,
       dürfte er mit ziemlicher Sicherheit sofort ins Arbeitslager geschickt
       werden, so wie es das Urteil vorsieht.
       
       ## Kreml hat viele Trümpfe in der Hand
       
       Denn der Kreml kann es sich nicht leisten, Schwäche zu zeigen. Nur falls
       Navalny weniger als 10 bis 15 Prozent der Stimmen holen sollte, die
       öffentliche Unterstützung für ihn also wider Erwarten rückläufig ist,
       könnten die Oberen vielleicht in Erwägung ziehen, seine Strafe zur
       Bewährung auszusetzen. Oder aber sie finden irgendeinen Vorwand, der ihnen
       erlaubt, einen neuen Prozess gegen ihn anzustrengen, um so seine
       politischen Ambitionen unter Kontrolle zu bringen.
       
       Der Kreml hat viele Trümpfe in der Hand und hat noch nicht entschieden,
       welchen er spielen wird. Vielleicht hält Putin Nalvalny auch in Freiheit,
       weil er verhindern möchte, dass Sobyanin zu viele Stimmen bekommt und
       womöglich zum zweitwichtigsten Politiker im Land wird. Das ist nur ein
       Gedanke, aber wer weiß?
       
       Navalny selbst muss sich auf beide Optionen vorbereiten, aber definitiv
       wahrscheinlicher ist es, dass man ihn nach den Wahlen am 8. September
       einsperren wird. Die Frage ist, ob er das Zeitfenster, das ihm bleibt,
       nutzen wird, um eine starke Botschaft an die Gesellschaft zu senden.
       Gelingt es ihm, seinen Status als der eigentliche Führer des russischen
       Volkes auszubauen? Gestern noch war er ein mutiger und charismatischer
       Blogger, der die neuen Medien zu nutzen wusste, um die Korruptheit der
       Eliten aufzuzeigen. Schafft er nun den Sprung zur politischen
       Führungsfigur?
       
       Im Moment, ist das schwer zu sagen. Viel hängt davon ab, ob er in Moskau
       mehr als 15 Prozent der Stimmen holt oder es sogar schafft mit dem
       Favoriten Sobyanin gleichzuziehen, das heißt in die Stichwahl zu kommen.
       Insgesamt wurden sechs Bewerber zur Wahl zugelassen. Das mit der Stichwahl
       ist extrem unwahrscheinlich – die Machthaber werden alles daran setzen, um
       es zu verhindern. Gleichzeitig: In Russland ist nichts mehr unmöglich, das
       Land ist unberechenbar geworden.
       
       ## Kult um die Führungsfigur
       
       Navalny ist ja selbst ein politischer Widerspruch. Er ist sowohl Gegner des
       Regimes und doch Teil des Systems. So hat er Putin offen den Kampf
       angesagt, sein Slogan lautet: „Nieder mit den Kreml-Leuten!“ Er will die
       Autoritäten ersetzen, nicht aber das autokratische System ändern.
       
       Seine Agenda lautet: Kampf der Korruption, ehrliche Gerichte,
       Dezentralisierung der Macht auf allen Ebenen. Aber all das bedeutet noch
       keine Demokratie. Zumindest hat er nicht gezeigt, dass er eine Strategie
       besitzt, wie der Übergang zur Demokratie gestaltet werden könnte.
       Stattdessen folgt er dem alten Modell des „Führenden Weisen“. Wer jedoch
       den Kult um die eine Führungsfigur beibehält, der wird die russische Matrix
       nicht verändern.
       
       Die Frage ist, ob sein Ruhm und die bevorstehende Inhaftierung ihm dabei
       helfen werden, einen neuen Typus von Führerschaft zu entwickeln, eine die
       Existenzstrategien beinhaltet. Auch das ist offen. Fest steht nur, dass der
       Mythos Navalny unlängst geboren wurde. Vielleicht wird er eine eigene
       Dynamik und Logik entwickeln, vielleicht wird Navalny den Mythos mit Leben
       erfüllen können. Mit der aktuellen Agenda aber kann er keine Alternative
       zur Alleinherrschaft des einen, starken Mannes aufbauen.
       
       Aber: Wir sind erst am Anfang einer neuen Entwicklung. Vielleicht erleben
       wir ja noch, dass ein angstfreier Blogger mehr Potential hat, als wir
       bislang sehen konnten. Haben wir also Geduld. Sehr viel wird davon
       abhängen, welche Botschaft Navalny nun sendet und welche Forderungen die
       Gesellschaft an ihn stellt.
       
       9 Aug 2013
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://livejournal.com
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lilia Shevtsova
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Russland
 (DIR) Wladimir Putin
 (DIR) Kreml-Kritiker
 (DIR) Moskau
 (DIR) Lager
 (DIR) Moskau
 (DIR) Sotschi 2014
 (DIR) Wladimir Putin
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Hatz auf Migranten in Russland: Vietnamkrieg in Moskau
       
       Erst schuften vietnamesische Migranten in illegalen Textilfabriken. Dann
       werden sie gejagt und rausgeworfen – pünktlich zur Moskauer
       Bürgermeisterwahl.
       
 (DIR) Illegale Migranten: Russland schließt Zeltstadt
       
       Nach Razzien hatten russische Behörden Hunderte illegale Einwanderer
       festgenommen und unter unwürdigen Bedingungen untergebracht. Damit ist
       jetzt Schluss.
       
 (DIR) Politkowskaja-Prozess: Angeklagter in Moskau angeschossen
       
       Die russische Regierungskritikerin Anna Politkowskaja wurde ermodert. Auf
       einen der dafür angeklagten Männer wurde geschossen. Er liegt im
       Krankenhaus.
       
 (DIR) Kommentar Sotschi-Boykott: Olympia als Bühne nutzen
       
       Wenn AthletInnen den Winterspielen in Russland aus Protest fernbleiben, ist
       den unterdrückten Homosexuellen nicht geholfen. Im Gegenteil.
       
 (DIR) Kommentar zum Urteil gegen Nawalny: Russland ändert sich trotz Repression
       
       Putin lässt den Regierungskritiker Alexei Nawalny wegsperren. Was nach
       Stärke aussieht, ist aber ein Zeichen von Verunsicherung.
       
 (DIR) Opposition in Russland: Was tun mit Alexei Nawalny?
       
       Am Mittwoch beginnt ein Prozess gegen den Blogger wegen Veruntreuung. Der
       Kreml sitzt am längeren Hebel, doch der Anwalt macht den Mächtigen Angst.
       
 (DIR) Russischer Blogger vor Gericht: Auf gepackten Gefängniskoffern
       
       Putin-Gegner Alexei Nawalny steht wegen Unterschlagung vor Gericht. Der
       Prozess wurde um eine Woche vertagt – aber an einer Verurteilung zweifelt
       niemand.