# taz.de -- Goldener Löwe für „Sacro GRA“: Schön gefilmtes Kuriositätenkabinett
       
       > Erstmals hat ein Dokumentarfilm das Festival von Venedig gewonnen. Er
       > handelt von der Ringautobahn um Rom – und überzeugt nicht wirklich.
       
 (IMG) Bild: Gianfranco Rosi mit seiner Crew: Zum ersten Mal gewann ein Dokumentarfilm das Festival
       
       Der Fischer sitzt in seiner Kate, liest Zeitung und schimpft über Aale aus
       „Afrika, Amerika und Frankreich“. Mit den ortsfremden Tieren gelangten
       fremde Mikroben in die italienischen Gewässer. Und die Journalisten würden
       nichts als Unfug schreiben.
       
       Seine Frau sitzt neben ihm, sie vertieft sich in ihre Handarbeit, der
       Fischer will, dass sie ihm zustimmt und seine Empörung teilt. „Du bist ja
       wie Penelope“, mosert er, als sie schweigt und weiterhäkelt.
       
       Der Fischer ist eine der vielen schrulligen Figuren, die der italienische
       Regisseur Gianfranco Rosi für seinen Dokumentarfilm „Sacro GRA“ ausfindig
       gemacht hat. GRA ist die Autobahn, die sich wie ein Ring um Rom legt; ein
       Ort des Transits, der Peripherie.
       
       Neben dem Fischer treten Prostituierte auf, Rettungssanitäter, Totengräber
       oder ein Hobbybiologe, der mit einem Tonbandgerät die Geräusche
       aufzeichnet, die die Larven eines Käfers in Palmen produzieren. In einer
       Szene spielt er die Aufnahmen auf seinem Computer vor, sie klingen lustig,
       wie eine Mischung aus Knall und Klospülung.
       
       ## Schwaches Leuchten
       
       Für „Sacro GRA“ erhielt Gianfranco Rosi am Samstagabend den Goldenen Löwen
       der 70. Mostra internazionale d’arte cinematografica in Venedig. Es war
       eine überraschende Entscheidung der Jury, deren Vorsitz in diesem Jahr
       Bernardo Bertolucci innehatte. Zum ersten Mal seit 1998 hat am Lido von
       Venedig ein italienischer Film gewonnen, zum ersten Mal überhaupt ein
       Dokumentarfilm.
       
       Überraschend war das Votum auch, weil „Sacro GRA“ zu viel von einem schön
       gefilmten Kuriositätenkabinett hat, als dass er rückhaltlos überzeugt
       hätte. Aus den 20 Wettbewerbsfilmen stach er weit weniger heraus als etwa
       Xavier Dolans energiegeladener Spielfilm „Tom à la ferme“ („Tom auf dem
       Bauernhof“), der am Samstag ohne Auszeichnung blieb, oder Tsai Ming-liangs
       „Jiaoyou“ („Stray Dogs“), der anstelle des Goldene Löwen immerhin den
       Großen Preis der Jury erhielt.
       
       Auch manch andere Entscheidung der Jury hatte etwas Erratisches. Der Preis
       für die beste Regie etwa ging an den Griechen Alexandros Avranas, obwohl er
       mit „Miss Violence“ einen Film zum Wettbewerb beisteuerte, der Zynismus als
       Kunst tarnte. „Miss Violence“ schaut einer dysfunktionalen Familie im Athen
       der Gegenwart zu. Solange der Ursprung der Dysfunktion im Dunkel bleibt,
       lässt sich der Film als zurückhaltende, beinahe subtile Studie einer
       krisenhaften Situation begreifen.
       
       ## Missbrauch als Methode
       
       Doch bald wird deutlich, worin die Not der Figuren besteht. Der scheinbar
       so zugewandte, ältere Herr in ihrem Mittelpunkt, Vater und Großvater der
       jungen Frauen und Mädchen, prostituiert seine Töchter und Enkelinnen.
       Avranas stellt die Unerträglichkeit der Verhältnisse aus, der Missbrauch
       wird in „Miss Violence“ zum Spektakel, der Regisseur protzt mit seiner
       Unerschrockenheit.
       
       Es gibt aufrichtigere Wege, sich mit menschlichen Abgründen zu befassen,
       etwa den, den der deutsche Regisseur Philip Gröning in seinem Spielfilm
       „Die Frau des Polizisten“ beschreitet, der Geschichte einer Frau, die von
       ihrem Mann körperlich misshandelt wird. „Die Frau des Polizisten“ erhielt
       den Spezialpreis der Jury.
       
       Seit 2012 ist Alberto Barbera als Direktor der Mostra im Amt; er hat das
       Programm verschlankt, und stärker als sein Vorgänger Marco Müller setzt er
       auf eine einheitliche Prägung. Gab es bis 2011 am Lido tolle Mischungen aus
       US-amerikanischen Erzählkino, spröder Filmkunst, ostasiatischen Spektakeln
       und Bewegtbildern, wie man sie sonst meist in den Black Boxes der Museen
       findet, gilt heute über weite Strecken das Gebot des guten
       Arthouse-Geschmacks.
       
       ## Pixelige Gegenwart
       
       Schade ist es um die Retrospektiven, die mit Spaghettiwestern oder
       Yakuza-Filmen die B-Seite des Kinos feierten. An ihre Stelle sind die
       Venice Classics getreten, die nach dem Vorbild der Cannes Classics
       präsentieren, was von Kinematheken gerade aufwändig restauriert wurde.
       
       Natürlich macht man dabei tolle Wieder- und Neuentdeckungen, zugleich aber
       wird man den Eindruck nicht los, das Festival werde zur Marketingplattform
       für anstehende DVD- beziehungsweise Blueray-Veröffentlichungen. Und
       manchmal stimmt einen die Digitalisierung des Filmerbes auch traurig, etwa
       wenn Chantal Akermans Experimentalfilm „Hotel Monterey“ gezeigt wird.
       
       1972 auf 16 Millimeter gedreht, hat das Original im Lauf der Jahre Schaden
       genommen; von der Cinémathèque Royale de Belgique wurde es nun digital
       restauriert. „Hotel Monterey“ besteht aus langen, unkommentierten
       Einstellungen aus dem Inneren des gleichnamigen New Yorker Hotels. Manchmal
       sieht man nichts als einen engen Flur, Türen, den Fahrstuhl. Mit anderen
       Worten: Man sieht vor allem Flächen, oft sind sie nicht gut ausgeleuchtet,
       der Reiz besteht darin, wie das Filmkorn vibriert.
       
       Bei 16 mm und analoger Projektion kommt dieses Vibrieren gut zur Geltung,
       es verleiht dem Bild etwas Pochendes, Lebendiges. In der Sala Volpi aber
       bleibt davon nicht viel. Es ist schwer zu sagen, ob es an der Qualität der
       Projektion oder an der der Restaurierung liegt, doch wo Puls war, sind nun
       Pixel.
       
       ## Monothematisches Kino
       
       Hinzu kommt, dass sich eine Tendenz verstetigt, die sich im letzten Jahr
       andeutete: Barbera und sein Auswahlgremium setzen auf thematische
       Leitmotive. 2012 gab es viele Filme, die sich mit Religion befassten. In
       diesem Jahr war es die Familie in der Krise, an der sich die
       Wettbewerbsbeiträge abarbeiteten, von David Gordon Greens „Joe“ über Philip
       Grönings „Die Frau des Polizisten“ bis hin zu Tsai Ming-liangs „Jiaoyou“
       („Stray Dogs“).
       
       Wiederkehrende Motive haben ihren Reiz, da sich im Vergleich gut beobachten
       lässt, wie unterschiedlich ästhetische Zugänge ausfallen können. Sobald sie
       überstrapaziert werden, ermüden sie, weil dem Thema größere Relevanz
       zukommt als dem Medium Kino. Das heißt nicht, dass sich die Mostra ins
       Abseits bewegte. Attraktiv ist und bleibt sie allein schon ihrer begnadeten
       Lage wegen.
       
       Spätsommertage am Lido von Venedig zu verbringen ist unschlagbar. Die
       Modernisierung der veralteten Infrastruktur kommt tatsächlich gut voran; so
       gab es in diesem Jahr zum Beispiel ein fast flächendeckendes WLAN, etwas,
       was man bei den Festivals von Cannes oder Berlin vergeblich sucht.
       
       Und an Filmen, die einen beschäftigen und umtreiben, herrschte ohnehin kein
       Mangel – man denke nur an Wang Bings fulminante, vierstündige Dokumentation
       „Feng Ai“ („’Til Madness Do Us Part“), die eine psychiatrische Anstalt im
       Südwesten Chinas erkundet, oder an Frederick Wisemans großartiges
       Institutionenporträt „At Berkeley“, das die kalifornische Universität
       Berkeley vorstellt und dabei das ungelöste Dilemma ausmisst, wie man unter
       spätkapitalistischen Bedingungen Zugang zu exzellenter Bildung anbietet,
       ohne sich dabei nur an diejenigen zu wenden, die ohnehin durch den
       Wohlstand ihrer Eltern begünstigt sind.
       
       8 Sep 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Cristina Nord
       
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