# taz.de -- Botho Strauß' „Lichter des Toren“: Im Wunderland
       
       > Zunächst hatte unser Autor vor, sich über das neue Buch von Botho Strauß
       > zu ärgern, so, wie schon mancher Kritiker zuvor. Allein – es kam dann
       > anders.
       
 (IMG) Bild: Ein Behauptungshäuptling ist Botho Strauß in diesem Buch nur an seinen schwachen Stellen.
       
       Im Jahr 1977, mitten im Deutschen Herbst, erschien eine etwa 140 Seiten
       lange Erzählung mit dem Titel „Die Widmung“. Ihr Autor war der damals über
       Theaterkreise hinaus noch kaum bekannte Botho Strauß, Dramaturg an der
       Schaubühne am Halleschen Ufer. Die Erzählung war der Überraschungserfolg
       des Jahres. Von den Kämpfen, die zum Deutschen Herbst geführt hatten, von
       den politischen Verwerfungen des Jahrzehnts überhaupt war in ihr nicht die
       Rede. Sie erzählte die Geschichte eines Verlassenen, der im heißen Sommer
       1976 seine Wohnung in Westberlin nicht mehr verlässt und nach und nach
       verwahrlost.
       
       Die Faszination, die von dieser Geschichte ausging, war zurückzuführen auf
       ihre Leuchtkraft, die bis heute, man darf ruhig den Test machen, nicht
       nachgelassen hat, und auf Sätze wie: „Verlassenwerden ist schließlich ein
       härteres Übel als eine Blinddarmentzündung“ oder „Er braucht Stillstand,
       nicht Beschäftigung, er braucht Urlaub zum Erinnern, Flitterwochen nach der
       Trennung, er hat sich mit einer Abwesenden vermählt.“ Dem ließen sich noch
       wenigstens dreißig andere Passagen anfügen. „Die Widmung“ gehört, mit einem
       Wort, zu den ganz großen Büchern der deutschen Gegenwartsliteratur.
       
       Wer so anfängt, möchte wohl ein Klagelied vorbereiten, das in einen Verriss
       mündet. Und anfangs, als ich Botho Strauß’ neues Buch „Lichter des Toren.
       Der Idiot und seine Zeit“ las, hatte ich das vermutlich auch vor: bereit,
       mich über „konservative Kulturkritik“ zu ärgern und meinem Ärger Ausdruck
       zu geben. Warum dieses Buch bei Diederichs und nicht bei Hanser erschienen
       ist, darüber wollte mir übrigens weder die Pressestelle des einen noch des
       anderen Verlages Auskunft geben. Äußerlich, in seinem matten Schwarz mit
       goldgeprägtem Titel, sieht es ein bisschen aus wie das Neue Testament in
       der Schublade des Hotelzimmers.
       
       Botho Strauß hat sich nach der eben genannten Erzählung mehr und mehr
       darauf verlegt, zeitkritische Notate zwischen zwei Buchdeckeln zu
       versammeln, könnte das Klagelied anheben. Das ist allerdings nicht ganz
       zutreffend, denn die folgenden Bücher, angefangen mit dem viel gerühmten
       „Paare, Passanten“, erzählten doch immer zugleich Geschichten, besser:
       führten Szenen vor, in denen der analytische Blick des Theatermanns und
       Dramaturgen triumphierte.
       
       Und manches gruppierte sich sehr deutlich um ein bestimmtes Narrativ, wie
       etwa das schöne Buch „Die Fehler des Kopisten“ um das Haus in der Uckermark
       und um Vater und Sohn. Da kann man natürlich den Zeigefinger heben und von
       Eskapismus reden; schließlich kann sich nicht jeder ein Haus in der
       Uckermark bauen. Das täte auch nicht jedem gut, und der Uckermark schon gar
       nicht.
       
       ## Da steckt Berti Voigts drin
       
       Was man Strauß zunehmend vorgeworfen hat, war eine Form der Kulturkritik,
       die weit unter seinem Niveau bleibe, und das ist nicht immer von der Hand
       zu weisen, auch im neuen Buch nicht, wie etwa in folgender Passage: „Der
       ästhetische Urfehler ist der Plurimi-Faktor: das Hohe zugunsten des Breiten
       abzuwerten. Das Untere zur obersten Interessensphäre zu machen. Das Breite
       zur Spitze zu erklären. Inzwischen paktiert auch die Kunst liebedienerisch
       mit Quote und breitem Publikum.“
       
       Da ist der Blick von oben auf die ästhetische Plebs enervierend, und auch
       die pfiffige Formel vom Plurimi-Faktor kann nicht verhindern, dass man bei
       solchen Formulierungen eher an Berti Vogts’ hinreißenden Satz „Die Breite
       in der Spitze ist dichter geworden“ denkt. Und die Erkenntnis etwa, dass
       die Abwesenheit jeglichen ästhetischen Urteilsvermögens nirgends so
       ausgeprägt ist wie bei den Ökos und ihrer Partei (nicht einmal bei der SPD
       und der Linken), ist schon so alt wie diese Partei selbst und kann nicht
       mehr als scharfsinnige Zeitdiagnose durchgehen.
       
       Das weiß längst jeder, der bei ästhetischem Verstand ist. Fast rührend ist
       es, wenn dieser Autor bei seiner „Private Equity“-Kritik darüber staunt,
       dass der einzige Zweck des Kapitals darin besteht, „mehr Kapital zu
       werden“. Das war, wenn ich mich recht erinnere, schon bei Karl Marx
       nachzulesen.
       
       Das sind aber Petitessen, und damit ist der Autor Botho Strauß nicht
       abgetan. Die Angelpunkte des neuen Buches, das sich in dreizehn Abschnitte
       und eine Coda von einer Seite Länge gliedert, sind einerseits unser
       Gefangensein im Netz und andererseits, siehe Untertitel, die Idiotie als
       bewusster Fluchtversuch daraus. „Verblödung als rebellischer Untergrund des
       Geistes interessierte Swift wie Flaubert. Ersterer erreichte sie selbst.
       Für Flaubert wurde sie die intime Partnerin seiner Wissensexzesse.“ Dabei
       ist vor allem an „Bouvard und Pécuchet“, vielleicht aber auch an Flauberts
       überschwängliche Bewunderung für eine Köchin zu denken, die im Jahr 1853
       noch immer nicht weiß, dass Frankreich nicht mehr von einem König regiert
       wird, und zudem äußert, das interessiere sie nicht, als man sie darüber
       aufklärt.
       
       ## Das Leben in der ewigen Gegenwart
       
       ## 
       
       Als Gefangener im Netz und seiner Technologie, so Strauß, ist aber „der
       Mensch so eins mit seinen Dingen, wie er’s im ersten Zeitalter der Trance
       mit seinen Gottheiten war“. „Es bleibt kein Zwischenraum, um zu
       ’reflektieren‘.“ Entsprechend lebt der Digitale in einer ewigen Gegenwart:
       „Starke Elemente der digitalen Technik sind Speicher, Cloud und
       Dauerpräsenz (das totale Präsens). Sie modulieren auch den persönlichen
       Erinnerungsraum. Wir erfahren mehr und mehr das Gedächtnis als ein Medium
       der Gleichzeitigkeit. Was damals war, ist nicht vergangen, sondern ewig
       verfügbar als ein Bestandteil des Simultanen.“
       
       Klar: Demgegenüber geht es um die Figur des Unzeitgemäßen, der hier die
       Gestalt des Idioten, des Privaten, des sich Entziehenden annehmen soll. Dem
       Autor Botho Strauß als Figur des Literaturbetriebs kann das natürlich nur
       partiell gelingen. Kaum war die Sperrfrist für das vorliegende Buch
       vorgezogen worden, hagelte es schon simultan die Kritiken in der FAZ, der
       SZ und der FR. So viel pawlowsche Hundereaktion und Aufmerksamkeit wird in
       dieser Saison nur noch Clemens Meyer und Helene Hegemann zuteil, die beide
       bekanntlich fernab der Uckermark leben.
       
       Dirk Pilz in der Frankfurter Rundschau machte dem Autor dann auch prompt
       zum Vorwurf, dass er ja gar kein Außenseiter sei, sondern von der Mehrheit
       des „Kulturbetriebs“ gewiss auch mit seinem neuen Buch hofiert werde,
       gerade wegen seines „elitären“ Ansatzes. Damit ist der Fall für ihn
       erledigt.
       
       Dem könnte man entgegnen, dass „die Literatur“ als Ganze immer eine
       ziemlich elitäre Angelegenheit war, von der Goethezeit bis heute, in den
       Zeiten des „Betriebs“. Dessen Stars sind und bleiben nur im eigenen Milieu
       bekannt, im Gegensatz etwa zu einem Lionel Messi oder einem Robert De Niro.
       Daran hat die Eventisierung der heutigen Literatur nichts geändert. Strauß
       geht darauf kurz ein: „Inzwischen zählt der Dichter nur noch als
       veranstalteter.
       
       Sein Werk findet bei Gelegenheit statt. Es ist nur im Rahmen eines
       Festivals präsent und findet dort sogar vorübergehend das Gehör der großen
       Schar.“ Er möge sich trösten: Diese große Schar ist in Wahrheit immer nur
       eine kleine radikale Minderheit, egal ob in Berlin, Köln oder Erlangen, und
       ob die bei solchen Gelegenheiten ihre Ohren wirklich aufsperrt, ist
       ungewiss.
       
       Wer mit der – durchaus schicken – Haltung des Anti-Elitären an dieses Buch
       herangeht, dem müssen seine Schönheiten, seine plötzlichen Erkenntnisse und
       treffenden Bilder natürlich entgehen, wie dieses etwa: „Die Schrift ist von
       allen Schatten der schattigste. Man sieht ja wohl, dass der Bildschirm mit
       elektronischer Schrift ganz und gar keine Wachstafel ist. Die Schrift kommt
       hier aus dem Erloschenem und strebt zum Erlöschen.“
       
       ## Kein Weltenretter
       
       Bemerkenswert an diesem Buch ist vor allem die Abwesenheit von Eifer und
       Zorn und von jeglichem Verdammungsurteil. Ein Weltenretter hat Strauß ja,
       von seinem Bocksgesang vielleicht abgesehen, nie sein wollen, dazu ist sein
       dramaturgischer Blick zu differenziert und wissend. Die Weltenrettung ist
       im Übrigen, wie er an einer schönen Stelle aufzeigt, in fester Hand: „Die
       Moderne ist von der Ideen-Welt in die Innenwelt gezogen und von der
       Innenwelt dann in die Umwelt. Dort herrscht Zerstörung, Verseuchung,
       Verschwendung, dieses Reich gibt es nur als vom Kollaps bedroht. Und darin
       haust der verfügte Verfüger, das ökopathetische ’Wir‘.“
       
       Dem gehört er nicht an, vielleicht auch wegen seiner, man verzeihe das
       Wort, Altersweisheit. Im kommenden Jahr wird er siebzig, und also: „Das
       Staunen kehrt wieder – der alte Mann betritt insofern ein Wunderland, als
       ihm ringsum das meiste verwunderlich erscheint und seine lange gehegte
       Anschauung vom verhandelten Leben unterläuft. Ein Ausrufer war er, ein
       Behauptungshäuptling, bevor er nun ein leiser Frager wurde; ein frei und
       ungebunden flüsternder Mann.“
       
       Ein Behauptungshäuptling ist Botho Strauß in diesem Buch nur an seinen
       schwachen Stellen, und vielleicht nicht einmal da. Im Übrigen hätte diese
       Kritik eigentlich gar nicht geschrieben werden dürfen, wenn man die
       schönste Stelle des Buches ernst nimmt: „Ein Buch ist eine
       Verschlossenheit, sieht aus wie eine kleine Schatulle, die man öffnet –
       aber man tritt ein in die Verschlossenheit. Ein Buch war immer das
       komprimierte Zimmer, in dem man es las. Der beste Leser war nie der, der
       über ein Buch redete, sondern der seine Verschlossenheit teilte.“
       
       Einverstanden.
       
       23 Sep 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jochen Schimmang
       
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