# taz.de -- Schafe hüten: Dem Himmel so nah
       
       > Ihr Beruf ist vom Aussterben bedroht und bringt kaum Geld. Warum
       > Schäferin Verena Jahnke trotzdem gerne ihren Bürojob aufgegeben hat.
       
 (IMG) Bild: „Nach Malle“ würde sie schon mal fahren. Aber lieber nach Neuseeland, zum Schafehüten: Verena Jahnke.
       
       HAMBURG-BERGEDORF taz | Das mannshohe Schilf hat Verena Jahnke verschluckt,
       es raschelt, platscht, als sie die verlorenen Schafe sucht. Wööööööö, hört
       man sie rufen, ihre Stimme vibriert, wöööööö. Plötzlich teilt sich das
       Dickicht und heraus marschiert die Schäferin, 22 Jahre, ein Stock in der
       Hand, gefolgt von zwei weißen und vier schwarzen Schafen.
       
       Dass Verena Jahnke nach getaner Arbeit noch einmal losmuss, um ausgebüxte
       Schafe einzusammeln, ist für sie selbstverständlich – gerade am Wochenende,
       wenn Spaziergänger die Pfähle des Elektrozauns aus der Erde ziehen, weil
       sie lieber am Deich als auf der Straße flanieren. Verena Jahnke lächelt
       dann, als habe sie sich damit abgefunden, dass sie einen Beruf ausübt, den
       viele Menschen gar nicht wahrnehmen.
       
       Der Beruf des Schäfers ist einer der ältesten Berufe der Menschheit und ein
       Beruf, den die Zeit vertreibt. Weil ihn fast niemand mehr versteht.
       
       Weder die Politiker, die beschlossen haben, dass jedes Schaf spezielle
       Ohrmarken tragen muss – die sollen die medizinische Überwachung der Schafe
       verbessern, kosten aber pro Tier 3 Euro. Noch die Urheber der Agrarreform,
       die durchgesetzt haben, dass Schäfer nicht mehr auf Mutterschafe Prämien
       erhalten, sondern auf die Fläche, die ihre Tiere abgrasen – viele Schäfer
       mit kleinen Herden haben daraufhin ihre Tiere verkauft. Weder die
       Umweltschützer, die die Schäfer gern von ihren Weiden vertreiben würden,
       damit seltene Pflanzen wieder aus der Erde sprießen. Noch die Anwohner –
       wie etwa die Frau neulich, die in Lockenwicklern aus ihrer Wohnung gestürmt
       kam und Verena Jahnke anschrie, weil die Schafe auf ihr Grundstück koteten.
       
       ## Immer weniger Betriebe
       
       Und jetzt scheint auch noch die Natur selbst die Schäfer zu vertreiben.
       Denn der Wolf ist zurück, auch hier, entlang der Elbe. In dieser Nacht
       reißt er hundert Kilometer südlich ein Mutterschaf und vier Lämmer.
       
       Gab es 2008 noch 28.500 Betriebe und 2,4 Millionen Schafe in Deutschland,
       waren es bei der letzten Zählung des Bauernverbands 2012 nur noch 10.500
       Betriebe mit mehr als 20 Schafen und insgesamt 1,5 Millionen Schafe. Auch
       die Weideflächen werden weniger, seit Biogasanlagen subventioniert werden
       und die Bauern auf ihren Feldern Getreide anbauen. Und der Verkauf des
       Fleisches ist auch nicht besonders lukrativ – pro Jahr verspeist der
       Deutsche im Durchschnitt ein Kilo Schaffleisch, davon stammen aber nur 460
       Gramm Fleisch aus deutscher Viehzucht.
       
       Schäfer gibt es eigentlich nur noch, weil sie von der EU subventioniert
       werden – für die von ihnen ausgeübte „Landschaftspflege“. So heißt das,
       wenn die Schafe ungenutzte Flächen wie den Deich abgrasen. Dafür erhalten
       die Schäfer umgerechnet etwa 3 Euro pro Stunde, wenn überhaupt, rechnet
       Verena Jahnke vor. Warum zum Teufel will eine junge Frau heute noch
       Schäferin werden?
       
       ## Leben im Wohnwagen
       
       „Sicher ist heutzutage eh kein Job mehr“, sagt sie. „Mit den Schafen, da
       kannst du zumindest leben, wie du willst.“ Und Verena Jahnke will das so:
       ein Wohnwagen, Aufschrift „Comtesse 530“, drinnen goldenes Plüschsofa,
       Küchenzeile, verschnörkelte Holzschränke. Draußen eine Feuerstelle, daneben
       ein grüner Plastiktisch mit pinkfarbenen Campingstühlen.
       
       Rechts ein Wasserkanister, links der Wohnwagen eines Gesellen, und
       rundherum Hunde, elf insgesamt. Ihr Gekläff hört man noch am anderen Ende
       der Lichtung bei Hamburg-Bergedorf. Hier, auf einem ehemaligen
       Truppenübungsplatz, der mittags prall in der Sonne liegt, hat Verena Jahnke
       ihr mobiles Zuhause aufgestellt.
       
       In 200 Meter Abstand hat sie eine Furche in Form eines Halbkreises in das
       halbhohe Gras gemäht. Darauf flitzt ihre Hündin Wanka hin und her, wenn sie
       die Schafe hütet, wie an diesem Spätnachmittag. Mäh, määh, schreit ein
       Lamm, es klingt schrill, hoch. Määääääh, erwidert ein großes Schaf. Das
       Leittier.
       
       Verena Jahnkes Augen sind darin geübt, die etwa 30 Schafe zusammenzuhalten
       – die muskulösen Suffolkschafe mit dem dunklen Kopf und dem hellen Fell.
       Jahnke nennt sie auch „Drecksviehzeug“, weil sie oft stur sind und sich
       nicht in die Gruppe einordnen wollen. Daneben gibt es die braunen
       Bergschafe und die Schwarzkopfschafe – ,„friedliche Tiere, die sich gut um
       die Lämmer kümmern“ – und ein paar unberechenbare Ziegen.
       
       Aber mehr noch als die Schafe muss Verena Jahnke ihre Schäferhündin im Auge
       behalten. Zum Beispiel jetzt: Ein Schaf stakst auf eine Böschung zu und
       schon bäumt sich das Tier vor ihm auf und fletscht die Zähne. „Aus, Wanka,
       aus“, schreit Jahnke und hebt den Stock. „Wanka ist jung und übereifrig,
       bei ihr muss man aufpassen, dass sie nicht gleich zubeißt.“
       
       ## Schon der Vater hielt Schafe
       
       An diesem Spätsommerabend kommt Verenas Vater zum Grillen, auch er ist
       Schäfer und stets in Begleitung seiner acht Hunde. Gerd Jahnke lebt eine
       Autostunde entfernt in der Lüneberger Heide, auf einem Hof mit Pferden,
       Kaninchen und 600 Schnucken, die er in der Heide hütet. Seit 30 Jahren
       treibt er die Herde, die nun seine Tochter betreut, im April an den
       Elbdeich etwa 10 Kilometer südlich von Hamburg und im November wieder
       zurück. Die Schafe überwintern zwar im Freien, aber in der Heide kann er
       sie zumindest mit Heu füttern, wenn der Boden gefroren ist.
       
       Seine Tochter Verena wollte eigentlich nicht Schäferin werden. Zwar hat sie
       im Schafstall Partys organisiert und ihren Vater oft bei der Arbeit
       begleitet. Aber er selbst habe ihr abgeraten, sagt sie – zu wenig
       Verdienst, keine Zukunft. Ein halbes Jahr lang hat sie dann in der Kanzlei
       eines Rechtsanwalts gearbeitet. Da saß sie also, von 8 bis 18 Uhr. Mal auf
       der einen Pobacke, dann auf der anderen. Nach dem ersten Tag begann sie zu
       kippeln, ganz schlimm war es, wenn niemand das Fenster aufmachen wollte.
       Und dann der Frust, sagt sie, das Gefühl, nichts zu tun zu haben.
       
       Arbeit hat sie jetzt mehr als genug, aber sie arbeitet gern. Über Tag
       bildet sie ihre Hunde aus und hütet kleinere Schafherden wie die ihres
       Vaters. Abends versetzt sie den Zaun am Deich und treibt die Schafe weiter,
       damit sie am nächsten Tag frisches Gras zu fressen bekommen. Danach
       versorgt sie die Hunde. Sie allein trägt die Verantwortung für die Schafe
       ihres Vaters und ihre Schäferhunde.
       
       Macht sie denn nie Urlaub? „Pfff“, macht Verena, „wenn jetzt ein Kumpel
       sagen würde, fahr mit nach Malle, hab’ alles organisiert, dann würde ich
       schon mitkommen.“
       
       ## Einmal Neuseeland
       
       Verena ist ohnehin eine, die nicht lange am Strand liegen kann. Der es
       leichter fällt, nach nur vier Stunden Schlaf aufzustehen, weil gerade ein
       Lamm geboren wird, als am Wochenende auszuschlafen. Nach getaner Arbeit
       trinkt sie gern ein Bier und Whisky mit Cola, an diesem Abend gemeinsam mit
       ihrem Vater, dem schweigsamen Gesellen aus Polen und dem Kindskopf Detlef
       vom Nachbarhof, der für ein Taschengeld aushilft. Wenn sich Verena Jahnke
       überhaupt nach etwas sehnt, dann wäre das Australien. Oder Neuseeland.
       „Dort einmal Schafe zu hüten, das wär schon toll.“
       
       Über Sehnsüchte und Träume sprechen die Schäfer nicht. Am Feuer fachsimpeln
       sie, wie viel Kontakt der Schäfer zu seinem Hund halten muss, um eine Herde
       zusammenhalten können. Oder über den letzten Winter, der so eisig war, dass
       Verena ihre Haare mit den Fingern abbrechen konnte. Bei der Verantwortung,
       die Tiere auch über den Winter zu bringen, ist es da nicht absurd zu
       behaupten, Schäfer hätten ein freies Leben?
       
       ## „Du hast die Freiheit, dich auszuprobieren"
       
       Der „Chef“ zieht die Brauen hoch. Als Schäfer müsse man jeden Tag neu
       überlegen, ob man jetzt die Tiere zum Hof zurücktreibt und füttert, weil
       die Schneedecke gefroren ist. Oder ob man ausnahmsweise mehr Tiere vom
       Schlachter holen lässt, weil nicht genug Platz um den Hof herum ist. „Du
       hast die Freiheit, dich auszuprobieren. Du lernst aus deinen Fehlern“, sagt
       er.
       
       Wenn er bei den Schafen steht, dann denkt er nach, ob er den Lehrling gut
       unterrichtet hat. Ob er das Gespräch mit dem Nachbarn jetzt wieder so
       führen würde. „Du bist nicht nur am Machen“, sagt er. „Du hast die Freiheit
       nachzudenken, ob das richtig war, was du gemacht hast.“
       
       Und die Freiheit, dein eigener Chef zu sein. Verena liebt diese Momente,
       wenn sie allein auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz ist, die Schafe und
       die Hunde versorgt hat. Dann fährt sie mit dem Fahrrad einfach geradeaus,
       quer über die Wiese, gefolgt von einem Rudel Hunde. Hier und da ragen die
       Disteln majestätisch zum Horizont, darüber steht blass und hart der Himmel.
       In Abendstunden wie diesen erscheint einem der Himmel ganz nah. Und die
       Gegenwart flüchtig.
       
       20 Oct 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Julia Maria Amberger
       
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