# taz.de -- Ost-West-Drama „Westwind“: Gefangen im Pionierlager
       
       > Robert Thalheims Film „Westwind“ erzählt von großer Liebe und stellt ganz
       > lässig das damals noch existente DDR-System in Frage.
       
 (IMG) Bild: Nicht die Grenze. Doreen (Friederike Becht) am Zaun des Pionierlagers.
       
       Mit Honecker, Krenz und Merkel sollten es immerhin drei langjährige
       FDJ-Kader später ganz nach oben an die Staatsspitze schaffen. Lutz
       Hachmeister hat einst in einer Dokumentation gezeigt, wie stark die
       Jugendorganisation die DDR durchdrungen hatte: Uniformen und Kampfauftrag
       für Frieden und Völkerfreundschaft. Für jemanden, der in der Bundesrepublik
       sozialisiert wurde, wo man beim Erwachsenwerden ganz gut ohne politische
       Jugendorganisation auskommen konnte, war das eine bizarre, so unbekannte
       wie unverständliche Welt.
       
       So empfinden das auch die Hamburger Jungs Arne (Franz Dinda) und Nico
       (Volker Bruch), als sie im Sommer 1988, der Mauerfall scheint noch in
       weiter Ferne, zwei Mädchen aus der DDR ein Stück in ihrem goldgelben Käfer
       mitnehmen. Dass es in Friedenszeiten so etwas wie ein „Pionierlager“ geben
       könnte, wäre ihnen vorher nicht in den Sinn gekommen. Aber am Balaton,
       einem der wenigen Orte auf der Welt, an denen die Urlaubspläne der Menschen
       beider deutscher Staaten sich kreuzen konnten, steigen Doreen und Isa vor
       so einem „Pionierlager“ aus.
       
       Später wird Nico Isa in seinem Hotelbunker zum Essen ausführen. Ein
       Speisesaal mit Kurhausatmosphäre, fast leer. Der Kellner lässt trotzdem
       lange auf sich warten. Nico bestellt sein Steak „raw“ und bekommt, was er
       eine Schuhsohle nennt. Er lässt das Essen zurückgehen. Isa ist baff, das
       hat sie noch nicht gesehen. Und wie genau beobachtet und unspektakulär und
       wunderbar lässig Robert Thalheim („Netto“, „Am Ende kommen Touristen“) in
       seinem 2011 in den Kinos gelaufenen Film „Westwind“ (Montagnacht, 0.10 Uhr,
       ZDF) die beiden deutschen Systeme in Ungarn aufeinandertreffen lässt, hat
       der Zuschauer noch nicht gesehen.
       
       Doreen und Isa sind Zwillingsschwestern, nicht eineiig, aber
       unzertrennlich, symbiotisch. Sie sind gerne bereit, den Aufenthalt im Lager
       mit Ausgehverbot als Auszeichnung zu begreifen, wie man es ihnen gesagt
       hat. Sie haben kein Problem mit der DDR, sie rudern, sie trainieren gerne.
       
       ## Das bisschen Unrecht reicht
       
       Hier zeigt sich übrigens besagte Lässigkeit Thalheims, die seinen Film zum
       Beispiel von der gerade laufenden zweiten Staffel der Serie „Weissensee“
       unterscheidet: Nur weil die Mädchen als Leistungssportlerinnen gepusht
       werden, muss nicht gleich das Fass Doping aufgemacht werden. Nicht alles
       Unrecht der DDR muss zeitgleich auftreten, um den Unrechtsstaat zu
       entlarven.
       
       Es genügt schon, dass Doreen sich in der gar nicht so unwahrscheinlichen
       Situation wiederfindet, in der Arne für sie mehr ist als nur eine
       Sommerromanze. In der er sie mit nach Hamburg nehmen will. In der sie das
       erst als „undenkbar“ ablehnen muss. Doch es hört nicht auf, in ihr zu
       bohren: „Was is’n, wenn ich ihn nie vergesse? Vielleicht ist das: die große
       Sache. Vielleicht passiert so was einmal im Leben.“
       
       ## Der große Irrtum DDR
       
       Dass diese normalen Verwirrungen einer Heranwachsenden zur Systemfrage
       werden müssen; dass Doreen sich zwischen Arne und Isa entscheiden muss oder
       Isa sich zwischen Doreen und allem anderen, das ihr etwas bedeutet, das ist
       grausam genug, um die DDR als großen Irrtum vorzuführen.
       
       Und es bedarf dafür eben nicht mehr als eines leichten Westwindes und einer
       beinahe schon französisch-leicht erzählten zarten Sommerliebe. Und einer
       Co-Autorin, die das alles mit ihrer Zwillingsschwester Doreen mehr oder
       weniger so erlebt haben mag. Und eines herausragenden Ensembles. Die
       Hauptdarsteller sind allesamt Kinder der 1980er Jahre, von der DDR können
       sie nicht mehr viel mitbekommen haben. Und doch will man Friederike Becht
       und Luise Heyer als Doreen und Isa jedes Wort, jedes Gefühl, jede Geste,
       jede Mimik glauben.
       
       Was allein dem Film nicht zu glauben ist: dass die Empathie am Ende sogar
       noch die Repräsentanten des Stasi-Staates am Balaton überwältigen soll.
       
       Montagnacht, 0.10 Uhr, „Westwind“, ZDF
       
       7 Oct 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jens Müller
       
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