# taz.de -- Jüdisches Leben in Deutschland: Eine Erkenntnis mehr
       
       > Ein Kindergarten in Chemnitz pflegt jüdische Traditionen, steht aber
       > allen Konfessionen offen. Für Chemnitz ein Schritt in die multikulturelle
       > Zukunft.
       
 (IMG) Bild: Nach der Wende gab es in Chemnitz zwölf jüdische Gemeindemitglieder, heute etwa 600. Auch eine neue Synagoge gibt es.
       
       CHEMNITZ taz | Freitags kurz nach zwei beginnt das Ritual, dem viele Kinder
       die ganze Woche über entgegenfiebern. Eben sind sie aus dem Mittagsschlaf
       erwacht, haben sich das Gesicht gewaschen, sind in Hosen oder Röcke
       geschlüpft.
       
       Jetzt bestürmen sie die Erzieherinnen Ellen und Galina. „Darf ich heute die
       Mama sein?“ – „Darf ich der Papa sein?“ Ellen Sohr, schmal, dunkle Haare,
       starker Lidstrich, schaut auf einen Zettel. Jeden Freitag notiert sie, wer
       zum Sabbat in die Rollen der Familienoberhäupter schlüpft.
       
       Richtig, Marcel und Xenia waren lange nicht dran. „Willst du heute der Papa
       sein, Marcel?“ Der blonde Junge nickt. Er hatte sich gar nicht vorgedrängt.
       Jetzt bekommt er einen Hut auf, Xenia ein Kopftuch umgebunden. Beide nehmen
       an der Stirnseite der Tafel Platz, die mit Tischtüchern und Leuchtern
       geschmückt ist.
       
       Auch die anderen Kinder und die Erzieherinnen sitzen jetzt. Erstaunlich
       ruhig ist es geworden. Ellen Sohr nimmt das Blatt mit den Segenssprüchen,
       die zum Sabbat gesprochen werden.
       
       ## Nicht alle sind registriert
       
       18 Kinder zwischen zwei und fünf Jahren gehen in den jüdischen Kindergarten
       von Chemnitz. Für die sächsische Stadt ist das ein wichtiger Schritt in
       Richtung multikulturelle Zukunft. Das einstige Zentrum jüdischen Lebens
       hatte während der Nazizeit fast alle seine jüdischen Einwohner verloren.
       1989 zählte Karl-Marx-Stadt, wie Chemnitz während der DDR-Zeit hieß, noch
       12 jüdische Bürger. Inzwischen ist die Gemeinde auf mehr als 600 Mitglieder
       angewachsen. Das ist den Einwanderern aus Russland und der Ukraine zu
       verdanken.
       
       Eigentlich ist die jüdische Community sogar um einiges größer. Viele
       Migranten möchten sich aufgrund der Diskriminierung, die ihre Familien in
       der Vergangenheit erlebt haben, nicht bei der Gemeinde als Juden
       registrieren lassen: Es könnte ja wieder anders kommen. Außerdem haben
       viele Einwanderer kaum noch einen engen Bezug zum Judentum. Auch das ist
       ein Grund, sich nicht bei der Gemeinde anzumelden. Damit nun die Kleinsten
       ihre Wurzeln kennenlernen, setzt sich Ruth Röcher, die Vorsitzende der
       Jüdischen Gemeinde, sehr für den Kindergarten ein: Im Herbst 2011 wurde er
       mit großzügiger Unterstützung der Stadt Chemnitz eröffnet.
       
       Er befindet sich im Stadtteil Am Sonnenberg, in demselben Gebäude, in dem
       auch ein städtischer Kindergarten untergebracht ist. An der Wand hängt ein
       Bord mit israelischen Flaggen, steht eine Menora. Ein von Kinderhand
       liebevoll gemaltes Plakat informiert über jüdische Feste und in welche
       Jahreszeit sie fallen. Eine Köchin bereitet eigens für die Kinder koschere
       Speisen zu. Heute hat sie außerdem zwei Challot gebacken. Die mit Mohn
       bestreuten Hefeteigzöpfe werden am Sabbat verspeist.
       
       Ellen Sohr hat einen Segensspruch vorgetragen. Nun schneidet sie ein Challa
       an. „Möchtet ihr Schokoladenmarmelade oder Marmelade auf euer Challa?“,
       fragt sie und artikuliert dabei überdeutlich, damit auch die Kinder mit
       einer anderen Muttersprache sie gut verstehen. Gezielte Sprachförderung
       gehört zum Konzept des Kindergartens.
       
       ## Das in der DDR vermittelte Wissen war düftig
       
       Marcel, der Papa, darf als Erster koscheren Traubensaft trinken. So will es
       die Tradition. Andächtig setzt er das Gefäß an die Lippen. „So, jetzt dürft
       ihr auch!“, sagt Ellen Sohr. Die Kinder kennen das Ritual, obwohl viele den
       Sabbat nicht mit ihren Eltern feiern. Einige von ihnen kommen gar nicht aus
       jüdischen Familien. Der Kindergarten nimmt Mädchen und Jungen aus
       christlichen und atheistischen Familien auf, sofern Plätze frei sind.
       
       Die Chemnitzer, die ihre Kinder anmelden, möchten, dass diese von klein auf
       Toleranz lernen. Das funktioniert auch, wie der katholische Vater eines
       Mädchens berichtet. Er erklärt seine Entscheidung, seine Tochter in diesen
       Kindergarten zu bringen, mit den gemeinsamen Wurzeln von Juden und Christen
       im Alten Testament: „Die Juden sind unsere älteren Brüder.“ Über das
       Judentum habe er in der DDR-Schule wenig erfahren, berichtet er weiter. Die
       Lehrer klärten ihn vor allem darüber auf, dass Israel ein „Klassenfeind“
       sei.
       
       Die Erzieherin Annett Helbig hat den DDR-Unterricht in ähnlich dürftiger
       Erinnerung. Über den Holocaust hätten sie gesprochen, doch mit der reichen
       jüdischen Kultur und Tradition wären sie kaum in Berührung gekommen. Helbig
       ist Jahrgang 1963. Nach der Wende bildete sie sich in ihrem Beruf fort, zog
       nach Schleswig-Holstein. 13 Jahre lang leitete sie dort einen
       multiethnischen, multireligiösen Kindergarten.
       
       Eines Tages fand sie eine Stellenanzeige: Die Jüdische Gemeinde in Chemnitz
       suchte für ihren neuen Kindergarten eine Leiterin. Die konfessionslose
       Annett Helbig bekam den Job. Wie auch die anderen Mitarbeiterinnen hat sie
       sich intensiv mit dem Judentum auseinandergesetzt. Sie fahren regelmäßig zu
       Weiterbildungen. Helbig hat zudem in den Jüdischen Kindergärten von Dresden
       und Leipzig hospitiert. „Wenn man sich beliest, hat man das eine oder
       andere Mal eine Erkenntnis mehr als die Menschen, die ihre jüdische
       Religion eigentlich nie ausleben durften“, sagt sie und meint damit die
       Einwanderer.
       
       In der Sowjetunion wurden ihre Religion praktizierende Menschen
       angefeindet, egal ob sie Christen, Juden oder Muslime waren. Der Diktator
       Stalin ließ Pfarrer, Rabbiner und Imame und viele andere Gläubige ermorden.
       Nach seinem Tod endete der blutige Terror, doch die Diskriminierung ging
       weiter. Ihr Vater habe nicht seinen Wünschen gemäß Physik studieren dürfen,
       erzählt Julia Kalika-Taraschuk, deren Tochter Marlene den Kindergarten
       besucht. Marlenes Großvater durfte nicht an eine Uni, sondern wurde nach
       längerer Wartezeit nur an einer Hochschule zugelassen. Immerhin konnte er
       Ingenieur werden.
       
       ## Hilfe aus dem Westen
       
       Nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 ermordeten die Nazis Tausende
       Sowjetbürger jüdischer Herkunft. Dennoch wurde das jüdische Leben nicht
       völlig ausgelöscht. Julia Kalika-Taraschuk stammt aus Kischinjow, das heute
       die Hauptstadt der Republik Moldau ist. Diese Stadt gilt noch immer als
       Hochburg jüdischer Kultur wie auch das ukrainische Odessa, aus der Julias
       Mann Igor Taraschuk stammt. Nach der Wende unterstützten Juden aus dem
       Westen, vor allem den USA, ihre Glaubensbrüder in Osteuropa. Mit ihrem Geld
       wurden Gemeindezentren aufgebaut, Gebäude saniert. Dennoch bekamen jüdische
       Menschen die Intoleranz ihrer Mitbürger in den Nachfolgestaaten der
       Sowjetunion häufiger zu spüren.
       
       Auch aus diesem Grund sind in den vergangenen Jahren viele Familien nach
       Deutschland eingewandert. Igor und Julia kamen mit ihren Eltern unabhängig
       voneinander 1995 und 1999 nach Sachsen. Julia Kalika-Taraschuk ist heute 30
       Jahre alt und studiert an der TU Chemnitz Technikkommunikation. Ihr Mann
       Igor, 33 Jahre alt, arbeitet bei einem Unternehmen, das Geschäftskontakte
       nach Russland unterhält. Die dreijährige Marlene, ein Mädchen mit lustigen
       blonden Zöpfen, geht gern in den jüdischen Kindergarten. „In jüdischen
       Institutionen ist die Atmosphäre besonders schön“, sagt Julia
       schwelgerisch.
       
       Auch sie hat in Kischinjow vier Jahre lang eine jüdische Schule besucht.
       Die Familie ihres jüdischen Vaters beging die traditionellen Feste. Julias
       Mutter, einer Russin, gefiel das, und sie machte gerne mit. Da ihre Mutter
       nicht jüdischen Glaubens ist, ist Julia Kalika-Taraschuk bis heute nicht
       Mitglied der Jüdischen Gemeinde Chemnitz. Sie bedauert das. Aber die
       traditionellen Regeln sehen es so vor: Jude ist, wer eine jüdische Mutter
       hat und sich zum jüdischen Glauben bekennt.
       
       Zu beschreiben, was ihre jüdische Identität ausmacht, fällt den Taraschuks
       schwer. In ihrem Alltag spiele die Religion kaum eine Rolle. „Wir feiern
       den Sabbat nicht“, sagt Igor Taraschuk in einem Deutsch, dem anzumerken
       ist, dass er seit 18 Jahren in Sachsen lebt. Nur drei, vier Mal im Jahr
       geht die Familie in die Chemnitzer Synagoge. Trotzdem fühlen sich die
       Taraschuks als Teil der jüdischen Community, schwärmen vom jährlichen
       Chanukka-Ball. Mit der jüdischen Erziehung ihrer Tochter führen sie eine
       Familientradition fort.
       
       Igor Taraschuk erinnert sich positiv an die jüdische Sonntagsschule in
       Odessa: „Dafür bin ich mit neun Jahren allein durch die ganze Stadt
       gefahren.“ Als Ruth Röcher Mitte der 1990er Jahre in Chemnitz
       Religionsunterricht anbot, war Igor Taraschuk, damals noch Jugendlicher,
       ihr erster Schüler.
       
       ## Anfangs kam keiner
       
       Ruth Röcher ist promovierte Religionspädagogin. 1994 zog sie mit ihrem Mann
       von Nordrhein-Westfalen nach Chemnitz. „Ich wurde Mitglied Nr. 11“, erzählt
       sie. Von den 12 Gemeindemitgliedern, die es 1989 noch gab,waren mehrere
       verstorben. Doch nun kamen die Einwanderer nach Chemnitz, darunter auch die
       Familie von Igor Taraschuk.
       
       Ruth Röcher kümmerte sich voller Elan um die Kinder. Seit 2006 ist sie
       Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde. „Wenn wir die Altersstruktur
       betrachten, hätten wir zuerst ein Jüdisches Altersheim einrichten müssen“,
       sagt sie. „Doch alle wissenschaftlichen Untersuchungen haben gezeigt, dass
       der Kindergarten das A und O ist.“
       
       Am 1. September 2011 saßen Annett Helbig und die anderen Mitarbeiterinnen
       allein in den schönen, hellen Räumen des neuen Kindergartens. Nach ein paar
       Tagen schickte ihnen die Stadtverwaltung zwei Mädchen. Die Einwanderer
       blieben skeptisch. Was für ein pädagogisches Konzept hatten die
       Erzieherinnen? Sprachen sie Deutsch oder Russisch mit den Kindern? Erst
       langsam wuchs das Vertrauen.
       
       Dazu trug die Mund-zu-Mund-Propaganda in der Gemeinde bei. Und auch, dass
       die Erzieherinnen erfolgreich die Deutschkenntnisse der Kleinen fördern.
       Gleichzeitig beschäftigt der Kindergarten russische Mitarbeiterinnen. Wenn
       eines der Kinder weint, hört es ein tröstendes Wort in seiner
       Muttersprache. Die Kinder sind schließlich in mehreren Kulturen zu Hause.
       
       8 Nov 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Josefine Janert
       
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