# taz.de -- „Marsch der Millionen“ in der Ukraine: Der lange Atem des Widerstands
       
       > Erneut haben Hunderttausende gegen die ukrainische Regierung protestiert.
       > In Kiew fiel ein Lenin-Denkmal. Zwei Szenarien sind nun denkbar.
       
 (IMG) Bild: Runter und rauf: Erst stürzten Demonstranten das Lenin-Denkmal, dann zertrümmerten sie es mit Hämmern.
       
       KIEW taz | Die Ukrainer geben nicht klein bei: Auch am Sonntag gingen in
       der Hauptstadt Kiew wieder Hunderttausende gegen die Regierung auf die
       Straße. Der Massenprotest fand auf dem Unabhängigkeitsplatz von Kiew statt,
       auf den bis zum frühen Abend immer mehr Menschen drängten.
       
       Dabei stürzten aufgebrachte Demonstranten eine 3,50 Meter hohe Statue des
       sowjetischen Revolutionsführers Wladimir Lenin, [1][wie auf diesem Video zu
       sehen ist]. Die maskierten Täter hätten die Flagge der nationalistischen
       Freiheitspartei (Swoboda) geschwenkt und Leuchtgeschosse abgefeuert, sagte
       ein Polizeisprecher.
       
       Aufgerufen zum „Marsch der Millionen“ hatte der Boxweltmeister und Chef der
       größten Oppositionspartei Udar (dt.: „Schlag“), Vitali Klitschko. Er
       forderte erneut den Rücktritt von Präsident Wiktor Janukowitsch. „Wir
       werden kämpfen und wir sind zuversichtlich, dass wir gewinnen werden“,
       sagte Klitschko. Was geht in einem Land vor, wenn sich auf dem zentralen
       Platz der Hauptstadt zum wiederholte Mal Hunderttausende Menschen
       versammeln?
       
       Schon seit über zwei Wochen finden in allen größeren Städten der Ukraine
       Protestaktionen statt. Auslöser war die Ankündigung von Regierungschef
       Mykola Asarow, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union auf Eis
       zu legen. Plötzlich schien all das zunichte gemacht, worauf große Teile der
       Bevölkerung seit Jahren gewartet hatten. Denn ein Handelsabkommen ist ein
       wichtiger Schritt hin zu engeren Beziehungen zur EU. Die Menschen könnten
       sich nicht nur mit qualitativ besseren Waren versorgen, da sich die
       Produktion EU-Standards annähern müsste. Zudem hätten sie auch leichter und
       billiger Zugang zu europäischen Produkten.
       
       Auch in der Nacht zum 30. November waren in Kiew viele Ukrainer auf die
       Straße gegangen. Doch diese Nacht markierte einen Bruch, und dieser Bruch
       hat die größten Proteste dieses Jahres überhaupt erst ausgelöst. Denn
       damals räumten Spezialeinheiten der Polizei das Gelände in der Nähe des
       Präsidentenpalais mit brutaler Gewalt. Im [2][Internet ist zu sehen], wie
       Polizisten unbewaffnete Demonstranten zusammenschlagen.
       
       Neun Personen, die so massiv verprügelt worden waren, dass sie sich nicht
       mehr bewegen konnten, wurden festgenommen und wegen „der Organisation von
       Massenaufruhr“ in Untersuchungshaft genommen. Einer von ihnen ist Valeri
       Garaguz, Journalist bei der Zeitung Liza (Gesicht) in Dnipropetrowsk, der
       eine schwere Gehirnerschütterung erlitt. Die Polizisten fielen genau in dem
       Moment über ihn her, als er versuchte, einem Verletzten zu Hilfe zu kommen.
       
       ## Passanten zusammengeschlagen
       
       Garaguz’ Anwalt Alexander Miroschnik sagte, dass sein Mandat von der
       Polizei gefoltert worden sei. Die Generalstaatsanwaltschaft erklärte
       dagegen, die Demonstranten, Mitglieder einer organisierten Gruppe, hätten
       die Ordnungskräfte angegriffen. Doch auf Videoaufnahmen ist zu sehen, wie
       diese Spezialeinheiten einzelne, zufällig vorbeigehende Menschen
       zusammenschlagen. Polizisten drücken den Menschen ihren Fuß in den Nacken
       und lassen sich so mit ihnen fotografieren – wie Jäger mit ihrer Beute.
       
       Die danach erwünsche Friedhofsruhe fand nicht statt. Slogans wie „Die
       Ukraine wählt eine europäische Zukunft!“ wurden um Forderungen ergänzt, die
       Regierung müsse für die Gewalt zur Verantwortung gezogen werden und
       zurücktreten. Währenddessen gab die Regierung an die von ihr kontrollierten
       Medien Direktiven weiter, wie sie über die Ereignisse auf dem
       Unabhängigkeitsplatz zu berichten habe. Nun hieß es, der Platz habe geräumt
       werden müssen, weil die Demonstranten die Stadt verunreinigen würden. Auch
       schädige der Protest die Wirtschaft.
       
       An dieser Stelle sei an die Orange Revolution von 2004 erinnert. Die
       veränderte zwar die Staatsführung, nicht aber das System. Wenn das, was
       jetzt in Kiew passiert, einen Sinn haben soll, dann müssen neue Spielregeln
       her, sagen viele Demonstranten. Ihnen erscheint es nicht ausreichend, einen
       schlechten Präsidenten durch einen vermeintlich besseren zu ersetzen.
       Verändert werden müssten vielmehr die Regeln, nach denen Politik und
       Verwaltung funktionieren. Dazu gehören ein entschlossener Kampf gegen
       Korruption und ein Mentalitätswandel bei den Beamten, die bislang nichts
       dabei finden, sich schamlos selbst zu bereichern.
       
       ## Zwei Szenarien für die Zukunft
       
       Tausende Ukrainer sind in den letzten Jahren nach Europa emigriert. Viele
       leben und arbeiten bereits in Polen, Spanien, Italien oder Deutschland. Sie
       tun das nicht nur, weil sie dort mehr Geld als zu Hause verdienen können.
       Es geht ihnen auch um die Art und Weise, wie man sein Geld verdient. Einen
       Großteil seines Gehalts bekommt etwa ein ukrainische Arzt nur noch unter
       der Hand.
       
       Es ist schwer vorauszusagen, wie sich die Dinge in Kiew entwickeln werden.
       Doch immer wieder werden zwei Szenarien genannt. Angesichts der Schwäche
       der Opposition scheint es möglich, dass der Protest nach einiger Zeit
       verebbt, wenn die Regierung gewisse Versprechungen abgibt. Viele
       Oppositionelle befürchten, dass Staatspräsident Wiktor Janukowitsch die
       Ukraine danach zu einem zweiten Weißrussland machen wird, einem
       Polizeistaat mit einem autoritären Regime.
       
       Wenn die Staatsmacht dagegen vorgezogen Wahlen zustimmen sollte, dann
       könnten die Keime der Zivilgesellschaft, die sich in diesen Tagen auf dem
       Unabhängigkeitsplatz von Kiew entwickeln, die Ukraine tatsächlich zum
       Positiven verändern.
       
       (Aus dem Russischen von Barbara Oertel)
       
       8 Dec 2013
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.youtube.com/watch?v=JAhfS9R1Kvg
 (DIR) [2] http://www.theguardian.com/world/video/2013/nov/30/ukraine-police-violent-crackdown-pro-eu-protest-video
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andrej Nesterko
       
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