# taz.de -- Gentrifizierung in Kreuzberg: Schulen in der Ethnofalle
       
       > Gut verdienende Zuzügler verändern die Mischung an den Grundschulen in
       > der Innenstadt. Davon profitieren viele Schulen, aber längst nicht alle
       > Kinder.
       
 (IMG) Bild: Kleine Gentrifizierungsgewinner? In Kreuzberg kommt es drauf an, wo kind wohnt.
       
       Mark Terkessidis, Kreuzberger, Vater und Migrationsforscher, ist begeistert
       von der Grundschule seines Sohns. Wie an der Fichtelgebirgeschule
       unterrichtet werde, habe „nichts mehr zu tun mit dem klassischen
       Grundschulunterricht unserer Generation“, sagt der 1966 Geborene. Die
       Klasse sei altersgemischt aus Sechs- bis Neunjährigen, bunt gemischt auch
       in Sachen Migrationshintergrund. Dazu kämen vier Kinder mit
       unterschiedlichen Behinderungen: „Die meisten von denen wären früher als
       schweres Hindernis für das Unterrichten betrachtet worden und
       selbstverständlich auf Sonderschulen gelandet.“ Heute säßen alle Kinder
       zusammen, „an runden Tischen statt starr auf ein Lehrerpult ausgerichtet
       und lernen gemeinsam“, schwärmt Terkessidis. Schule könne nämlich mit
       solchen Differenzen umgehen.
       
       Die Fichtelgebirgegrundschule im Wrangelkiez hat im Umgang mit solcher
       Vielfalt mittlerweile langjährige Erfahrung. Das Wohngebiet war eines der
       ersten in Kreuzberg, das mit Imageaufwertung, explodierenden Mieten,
       Umwandlung vieler Miet- in Eigentumswohnungen, Zuzug aus dem In- und
       Ausland und damit einhergehender Veränderung der Anwohnerschaft
       konfrontiert war. Die Schule passte sich dem Prozess mit dem – von
       Quartiersmanagern und vielen externen Partnern unterstützten – mehrjährigen
       Programm „Wrangelkiez macht Schule“ an.
       
       Aus einer Schule, die lange von deutschstämmigen, gebildeteren und
       wohlhabenderen Einwohnern gemieden wurde und den ärmeren, vor allem
       türkeistämmigen Familien des Kiezes überlassen blieb, ist eine geworden,
       die über die direkte Wohnumgebung hinaus einen guten Ruf genießt. Mit
       Lernwerkstatt, Schulgarten, Lese- und Schulpaten und anspruchsvollen
       Kulturprojekten bietet sie Anreize für Kinder jeder Begabung – und weckt
       gleichzeitig das Interesse auch sogenannter bildungsinteressierter Eltern.
       
       ## Streit über die Mischung
       
       Kreuzberg verändert sich längst auch andernorts. Doch nicht überall gelingt
       es den Grundschulen gleich gut, mit diesen Veränderungsprozessen umzugehen.
       Das zeigt das Beispiel der Lenauschule. Dort gab es zu Beginn dieses
       Schuljahres heftigen Krach, nachdem eine Anfängerklasse fast nur aus
       Kindern mit deutschem Hintergrund gebildet worden war.
       
       Wie die Fichtelgebirge- litt auch die Lenauschule lange unter dem
       hässlichen Ruf der „Resteschule“ – gemieden von bestimmten
       Bevölkerungsteilen. Zwar gab es in ihrem Einzugsgebiet zwischen Blücher-
       und Bergmannstraße – im „reichen“ Kreuzberg – immer mehr wohlhabendere und
       deutsche BewohnerInnen als anderswo im Stadtteil. Doch die meldeten ihre
       Kinder lieber auf anderen Schulen an. So hatte die Lenauschule irgendwann
       einen Migrantenanteil von fast 80 Prozent, die nahe Reinhardswaldschule
       hingegen von nur 40 Prozent.
       
       Mietsteigerungen und Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen führten
       auch rund um die Lenauschule in den vergangenen Jahren zu einer zunehmenden
       Verdrängung ärmerer, oft migrantischer Familien. Der Anteil der sogenannten
       bildungsinteressierten Familien stieg weiter. Doch die Plätze an den von
       ihnen bevorzugten Grundschulen reichten nicht mehr aus. Die Lenauschule sah
       ihre Chance gekommen, mehr deutsche Eltern zu gewinnen. Seit drei Jahren
       wirbt sie in Kitas damit, deren Kinder als Gruppen in ihre Klassen
       aufzunehmen. Diese Segregation von Kindern in Klassen mit und Klassen ohne
       „Migrationshintergrund“ rief dann den Protest vor allem türkeistämmiger
       Eltern auf den Plan. Die wollen sich das pauschale Labeling als
       „bildungsfern“ längst nicht mehr gefallen lassen.
       
       Migrationshintergrund = bildungsfern = Problemschüler. Und: viele Schüler
       mit Migrationshintergrund = Problemschule: So lautete jahrelang die
       Gleichung, nach der viele Eltern ohne Migrationshintergrund Schulen
       bewerteten, und die Letztere oft auch für sich selbst annahmen. Der Streit
       an der Lenauschule zeigt nicht nur, dass solche Labels dabei sind
       aufzubrechen, sondern auch, wie tief sie in vielen Köpfen verwurzelt sind.
       
       Auch Lenau-Schulleiterin Karola Klawuhn weiß längst, dass das Merkmal
       Migrationshintergrund – oder „nicht deutsche Herkunftssprache“ (ndH), wie
       es in der Schulstatistik heißt – so gut wie nichts mehr über Sprach- und
       Lernvermögen eines Schulkindes aussagt. Viele türkeistämmige Einwanderer im
       Kiez haben den Aufstieg in die akademisch gebildeten Schichten längst
       geschafft, neue migrantische Zuzügler sind oft ebenfalls Akademiker.
       Dennoch haben ihre Kinder logischerweise bei der Einschulung oft erst
       schlechte Deutschkenntnisse.
       
       Die Schulleiterin hält dennoch an ihrem Konzept fest, um deutsche Eltern zu
       werben. „Wir haben die Eltern, die wir haben wollen, anders nicht
       interessieren können“, sagt Klawuhn, als sie ein halbes Jahr nach dem
       Streit über die Klassenzusammensetzung an ihrer Schule bei einer
       öffentlichen Diskussionsveranstaltung Bilanz zieht. Ihrem Satz folgt ein
       Raunen in den Reihen der wenigen bei der Veranstaltung anwesenden Eltern –
       überwiegend türkeistämmige: Sie sind die Eltern, um die Klawuhn nicht
       wirbt.
       
       An der Rosa-Parks-Grundschule an der Reichenberger Straße sieht Schulleiter
       Holger Hänel das mit der richtigen oder falschen Mischung ziemlich
       gelassen. Auch seine aus einer Grundschule und einem sonderpädagogischen
       Förderzentrum fusionierte neue Schule erbte einen schlechten Ruf aus
       vergangenen Zeiten. Nur noch für je eine Klasse reichten ehemals die
       Anmeldungen an den Vorgängerschulen. Kurz nach der Fusion hatte Hänel 87
       Neuanmeldungen. Auch in dem Kiez zwischen Kottbusser Tor und Neuköllner
       Norden verändern sich die Anwohner. Zuzüge gebe es aber „aus allen sozialen
       Schichten und mit allen möglichen Migrationshintergründen“, sagt Hänel.
       
       So kämen zum Beispiel viele binationale Familien. Er nimmt sie alle. Auch
       wenn Kinder aus Kitagruppen in eine Klasse wollen, lässt er das zu: „Wenn
       es nicht mehr als vier oder fünf sind“, betont der Schulleiter. Hänel
       erlebt die Entwicklung des Kiezes und damit seiner Schule als eine „sehr
       positive“: „Die meisten Eltern hier wollen genau diese Vielfalt, deshalb
       leben sie ja hier“, ist seine Erfahrung. „Sie sehen das als Gewinn an und
       engagieren sich dafür.“
       
       ## Ein Elternbeirat für alle
       
       Um solches Engagement zu erleichtern, hat die Schule neben der gewählten
       Elternvertretung einen Elternbeirat eingerichtet, in dem jeder, der will,
       mitmachen kann. Natürlich seien das vor allem „die sogenannten
       Bildungsinteressierten“, sagt Hänel, „aber keineswegs nur deutsche!“ Er
       fügt hinzu, dass er solche Kategorisierungen eigentlich nicht mag. Steuernd
       eingreifen will er in die Entwicklung der Zusammensetzung seiner Schüler-
       und Elternschaft nicht, so der Schulleiter, der bereits seit 20 Jahren
       Lehrer an einer der Vorgängerschulen der Rosa-Parks-Grundschule war.
       Vielfalt sei eben „eine Art Dauerbaustelle“.
       
       Auf einer Baustelle ganz anderer Art sitzt im Westen Kreuzbergs Schulleiter
       Lutz Geburtig. Er schaut nicht ohne Neid auf die Entwicklungen anderswo im
       Bezirk. Im Kiez um seine Schule zwischen Stresemann- und Lindenstraße fehlt
       der charmante Altbaubestand, der die jungen Neuzuwandererfamilien in den
       anderen Teilen Kreuzbergs anzieht. Doch auch in den teils schon aus der
       staatlichen Förderung entlassenen Sozialbauten rund um Mehringplatz und
       Wilhelmstraße steigen die Mieten rasant. Verdrängt werden die meist gering
       oder mittelgut verdienenden Familien, die ihre Mieten selbst zahlten. Es
       bleiben und neu dazu kommt, wessen Miete der Staat bezahlt: arme, oft
       kinderreiche Familien; viele Einwanderer; „und wer hier Eigentum kauft“ –
       etwa in den schick renovierten „Feilnerhöfen“. Letztere hätten oft so viel
       Geld, dass sie ihre Kinder „lieber auf Privatschulen schicken als auf
       unsere“, so Geburtig.
       
       100 Kinder hätten sich laut Einwohnerstatistik in der jüngsten Anmeldephase
       für die ersten Klassen an seiner Kurt-Schumacher-Schule registrieren
       sollen. 70 kamen. 55 davon lediglich, um das Formular abzuholen, mit dem
       sie sich an anderen Schulen bewerben können. Gerade mal 30 Anmeldungen
       hatte Geburtig am Ende der Frist. Von der „richtigen Mischung“ kann der
       Schulleiter da nur träumen. Träumen aber ist nicht Geburtigs Sache.
       
       ## Nichts löst sich von allein
       
       Ja, viele seiner SchülerInnen kämen aus Familien mit großen Problemen, in
       denen wirtschaftliche Probleme den Alltag bestimmen, Bildung zwar erwünscht
       sei, aber Eltern schlicht nicht wissen, wie sie ihre Kinder unterstützen
       können. „Auch deren Kinder brauchen eine gute Schule“, sagt Geburtig. Für
       ihn bedeutet die Entwicklung anderswo in Kreuzberg die Gefahr, dass Schulen
       wie seine ganz vergessen werden, „weil die Gentrifizierung die alten
       Schulprobleme so schön löst. Aber hier wird sich gar nichts von alleine
       lösen.“
       
       Immerhin ist sein großzügiges Schulhaus gerade eine große Baustelle: Es
       wird umfassend renoviert, der Schulhof neu gestaltet. Gute Voraussetzungen
       für einen Neuanfang. Den will Geburtig, Schulleiter seit einem Jahr, in
       Angriff nehmen: „Unsere Aufgabe ist es, gute Schule zu sein für die Kinder,
       die wir haben.“
       
       Das sieht auch Sibylle Recke, Lehrerin der Lenauschule, so. „Wir sollten
       endlich aufhören, uns zu fragen, welche Schüler wir haben wollen“, sagt sie
       bei der Diskussionsveranstaltung in der Grundschule. „Und uns statt dessen
       fragen, welche Schulen die richtigen sind.“ Statt über
       Migrationshintergründe müsse über Bildungsgerechtigkeit diskutiert werden,
       fordert Recke: „Wir müssen raus aus der Ethnofalle!“
       
       Auch der Kreuzberger Vater und Migrationsforscher Mark Terkessidis hält
       Debatten über die „richtige Mischung“ für „grandiosen Unsinn“: „Das ist
       eine Reaktion auf Vorurteile der Mittelschicht.“ Schulen sollten sich
       stattdessen bemühen, „für alle Anwohner attraktiv zu sein.“
       
       1 Jan 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Alke Wierth
       
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