# taz.de -- Die Wahrheit: Eine Röhre ist keine Röhre
       
       > Im Berliner Stadtteil Friedenau hat ein geheimnisvoller amerikanischer
       > Künstler das dümmste und klügste Kunstwerk der Welt installiert.
       
 (IMG) Bild: Mit einer Art Pipeline der Kunst sollen die Städte Berlin, Budapest, Lyon und Prag artifizell verbunden werden.
       
       Grass und Frisch, Kästner und Tucholsky, Lenin und Luxemburg, Göring und
       Goebbels, Karl Schmidt-Rottluff und Renée Sintenis, Herta Müller und Jürgen
       von der Lippe – schon immer bevölkerten weltberühmte Gestalten den am
       südlichen Rand des Berliner Innenstadtbezirks Schöneberg gelegenen
       Stadtteil Friedenau. Im sogenannten Dichterviertel und drumherum sammeln
       sich die Anekdoten aus der Welt-, Kunst- und Literaturgeschichte und werden
       gern weitererzählt hinter den traditionell nicht von Gardinen verhangenen
       hell erleuchteten Fenstern, aus denen sonst die Klagelaute gequälter
       Klavierschüler dringen, die von den als Holzmedientapeten bezeichneten
       Bücherregalen kaum gedämpft werden.
       
       Es sind Geschichten von Günter Grass, der bis 1989 das Haus in der
       Niedstraße bewohnte, das einst dem Seeschlachtenmaler Hans Bohrdt gehörte,
       einem Jugendfreund von Kaiser Wilhelm II., der ihn hier oft besuchte, wie
       Willy Brandt später den Blechtrommler. Max Frisch lebte in der
       Sarrazinstraße, die nach einem Verwandten von Thilo Sarrazin benannt wurde,
       der seinerzeit mit seiner Deutschtümelei die Berliner Behörden enervierte.
       Und noch heute müssen die Mieter der Frisch’schen Wohnung laut Mietvertrag
       den Schreibtisch des Meisters im Originalzustand belassen.
       
       Auch Erich Kästner lebte in der Niedstraße, und noch lange nach seinem Tod
       stand sein Name am Klingelschild zur Wohnung seiner „Sekretärin“. Rosa
       Luxemburg wohnte in ihren besten 12 Jahren hier, wo sie die gute Luft in
       Friedenau lobte. Lenin verbrachte seine Berliner Zeit in der
       Handjerystraße, wo in der alten Friedenauer Post angeblich eines seiner
       bekanntesten Bonmots entstanden sein soll, dass nämlich die sozialistische
       Planwirtschaft nur ein Erfolg werde, wenn sie sich die deutsche Post zum
       Vorbild nähme.
       
       Auf dem ehemaligen Postplatz, der heute nach Renée Sintenis benannt ist,
       die als erste Bildhauerin Mitglied der Berliner Akademie der Künste wurde
       und deren bekannteste Skulptur der Berlinale-Bär ist, steht eine kleine
       bronzene Pferdefigur. Und jedes Friedenauer Schulkind kennt die Legende von
       dem Fohlen, das immer Hunger hat, weshalb selbst die älteren Passanten
       stets an der Bronzeskulptur innehalten und überprüfen, ob das Pferdchen
       auch ein Grasbüschel vor sich liegen hat, und wenn nicht, wird gerupft und
       Futter ausgelegt.
       
       ## Gesamtkunstwerk „Broken City“
       
       Friedenau ist ein weites artifizielles Feld, und den vielen Anekdoten wird
       nun eine neue hinzugefügt. Denn seit dem Oktober 2013 ist im Viertel ein
       frisches Kunstwerk heimisch: „The Pipe“ heißt das Werk von Robin Bork, wie
       ein laminiertes DIN-A4-Blatt, das mit Kabelbindern an einer Absperrung in
       der Handjerystraße befestigt wurde, erklärt. Was auf den ersten Blick wie
       eine verrostete Röhre aussieht, ist Teil des Gesamtkunstwerks „Broken
       City“, wie der Text aus der [1][britischen Zeitung The Guardian] erläutert. 
       
       Demnach habe der aus Seattle stammende „well known Native American artist
       Robin Bork“, der bereits „zweimal den Preis für den besten städtischen
       Künstler gewann“, eine Art Pipeline der Kunst zwischen den Städten Berlin,
       Budapest, Lyon und Prag installiert. Die metallenen Objekte dienten als
       Klanginstallation, wie jeder Passant feststellen könne, der seinen Kopf in
       die Röhre halten würde: „Stimmen innerhalb der Röhre werden von
       verschiedenen Arten von Schichten reflektiert, die einen Klang produzieren,
       der der Akustik eiserner Stätten in Myanmar gleicht.“ Derzeit arbeite Robin
       Bork zusammen mit dem japanischen Pop-Künstler Keiichi Tanaami an einem
       Projekt in Tokio, das auf die nicht enden wollende Krise um Fukushima
       abzielt.
       
       Spätestens an der Stelle dürfte der Betrachter stutzen, denn irgendetwas
       stimmt mit diesem Kunstwerk nicht. Man muss sich nur umsehen. „The Pipe“
       steht mitten zwischen anderen Röhren. Seit Jahren erneuern die Berliner
       Wasserbetriebe die Kanalisation von Friedenau. Warum, weiß jeder Hörer des
       Berliner Verkehrsfunks, wenn es besonders im Winter wieder heißt: „In
       Friedenau ist ein Wasserrohr geplatzt, und die Bundesallee zwischen
       Bundesplatz und Walther-Schreiber-Platz ist gesperrt.“ Dann läuft die
       sogenannte Friedenauer Senke voll, und man fragt sich, ob Kurt Tucholsky
       damals in der Bundesallee 79 seinen Fluch tatsächlich nur auf die deutsche
       Justiz gemünzt hatte: „Diese Flut von provozierenden, beleidigenden und
       höhnischen Trivialitäten ist unerträglich.“
       
       ## Munter fließen die kulturellen Verweise
       
       Friedenau hat eben schon einige Jahre hinter sich, schließlich wurde es
       nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 als eigenständiges Dorf
       gegründet. Die Frau des Baumeisters Hermann Hähnel kam der Legende nach auf
       den Namen: Die Au des Friedens. Ein Name, der sich auch in den Straßen des
       Viertels widerspiegeln sollte: Die Hauptstraße wurde zur Rheinstraße, und
       die meisten anderen Straßen wurden nach elsass-lothringischen oder
       saarländischen Flüssen benannt, um die der gerade zurückliegende Krieg
       getobt hatte.
       
       So fließen die kulturellen Verweise munter durch den Kiez. Und wo viel
       fließt, sind viele Rohre. Die allerdings irgendwann einmal auch
       ausgetauscht werden müssen. Also liegt überall in Friedenau Material aus
       dem Untergrund herum. Das nun, im Fall von „The Pipe“, ein geheimnisvoller
       Künstler kurzerhand zum Kunstwerk erklärt hat. Denn es gibt weder einen
       „Native American artist“ namens Robin Bork noch den Guardian-Artikel, der
       sauber gefälscht wurde, im Archiv des Guardian ist er jedenfalls nicht
       auffindbar. Das Ganze ist ein einziger Fake. Eine Röhre ist keine Röhre ist
       eine Röhre …
       
       Dabei weist die metallene Röhre signifikante Muster auf, die durchaus von
       einem Bildhauer mit einer Flex verursacht sein könnten. Wäre sie aber
       lediglich eine Objektinstallation, dann wäre die Röhre wohl das dümmste
       Kunstwerk der Welt. Doch es gibt eben die vielen feinen Anspielungen, die
       schon im ersten Satz des Begleitschreibens beginnen: „This is not a pipe“.
       Ein Zitat aus René Magrittes Gemälde „Ceci n’est pas une pipe“ (Das ist
       keine Pfeife), das, wie wir aus dem Kunstunterricht in der Schule wissen,
       uns eine neue surrealistische Sicht auf die Welt brachte, weil das
       Kunstwerk tatsächlich kein Objekt der Wirklichkeit ist, sondern bestenfalls
       ein Abbild.
       
       Auch der Bezug zu Keiichi Tanaami öffnet ganze Kunstwelten. Denn der 1936
       geborene Japaner gilt als geistiger Ziehvater der japanischen Pop-Art. Und
       wie wir wieder aus dem Kunstunterricht wissen, ist unter anderem das
       Verdienst der Pop-Art, Alltagsgegenstände in den Mittelpunkt der
       künstlerischen Betrachtung gerückt zu haben. Alles ist Kunst, jeder kann
       ein Künstler sein, lauten die Schlagworte. Und die hat der Schöpfer von
       „The Pipe“ vorbildlich aufgegriffen. Seine ebenso kleine wie in ihrer
       Vielschichtigkeit großartige Erzählung ist deshalb das momentan klügste
       Kunstwerk der Welt und so nur im artifiziellen Friedenau möglich.
       
       Auf einer Bahnfahrt von Frankfurt nach Berlin saß ich einmal mit Wladimir
       Kaminer im Abteil und wir unterhielten uns über den Wahrheitsgehalt von
       Erzählungen. Kaminer aber sah dauernd aus dem Fenster und lächelte jedes
       Mal, wenn er wieder etwas entdeckt hatte. „Deutschland ist ein schönes
       Land“, meinte er schließlich, „überall liegen Röhren.“ Röhren aber
       bedeuteten, dass etwas fließe, und wenn alles fließe, dann sei das schön.
       Schön wie die Röhre von Friedenau.
       
       3 Feb 2014
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.guardian.co.uk/robinbork-europe/berlin
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michael Ringel
       
       ## TAGS
       
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