# taz.de -- Debatte Ägypten: Wir haben Zeit
       
       > Die Konterrevolution in Ägypten läuft, doch auch die Revolution geht
       > weiter. Aber derzeit gibt es keine guten Optionen, also wählt man das
       > weniger Schlimme.
       
 (IMG) Bild: „Für die kollektive Psyche ist es wichtig, dass das Land von einer starken nationalen Institution regiert wird.“
       
       Keine Frage: Ägypten weist heute alle Zeichen einer Konterrevolution auf:
       Journalisten werden inhaftiert (wenngleich Anfang der Woche 60 politische
       Gefangene entlassen wurden), abweichende Meinungen zum Teil brutal
       unterdrückt, und über all der Repression schwebt eine Wolke der
       Fremdenfeindlichkeit.
       
       Gleichzeitig verschärfen sich die Proteste der Muslimbrüder an den
       Universitäten immer mehr. Gebäude werden niedergebrannt, Professorinnen die
       Kleider vom Leib gerissen, ältere Männer tätlich angegriffen. Überall im
       Land gibt es Anschläge auf Sicherheitseinrichtungen. Doch die haben meiner
       Ansicht nach nichts mit den Muslimbrüdern zu tun, auch wenn die Militärs
       das behaupten.
       
       Was dabei für westliche Beobachter häufig schwer zu verstehen ist, liegt
       für Ägypter zumeist auf der Hand: Derzeit gibt es keine guten Optionen,
       also wählt man das weniger Schlimme. Also wählt man General Sisi als das
       geringere Übel, denn er hat das Land immerhin vor dem Desaster gerettet, in
       das die Regierung Mursi das Land gestürzt hat.
       
       Die ägyptischen Medien stehen auf der Seite von Sisi und schüren eine
       gefährliche und auch rassistische Hysterie gegen die Islamisten und
       inzwischen auch gegen alle anderen revolutionären Gruppen, die nicht auf
       einer Linie mit dem Militärregime sind. Sie füttern die Angst, das Land
       stände kurz vor dem Kollaps. Die katastrophale Situation im nicht weit
       entfernten Syrien hilft ihnen dabei.
       
       ## Wahnsinnige Gotteskrieger
       
       Damit kein Missverständnis entsteht: Das Vakuum in Syrien, das nun
       wahnsinnigen Gotteskriegern erlaubt, mit einer Agenda in das Land
       einzufallen, die sich kaum oder gar nicht um die Belange der syrischen
       Bevölkerung kümmert, geht vor allem auf die Rechnung des Assad-Regimes.
       Trotzdem: Ist es angesichts von mehr als 100.000 Toten wirklich
       verwunderlich, dass viele Ägypter fast einen Herzanfall bekamen, als Mursi
       zum „Marsch auf Syrien“ aufrief, also zur Beteiligung am heiligen Krieg?
       
       Bis dahin hatte sich niemand vorstellen können, dass ein ägyptischer
       Präsident jemals einen solchen Appell formulieren würde. Kurz darauf kam es
       zu einem Massaker an Schiiten – eine extreme Seltenheit in Ägypten.
       Währenddessen die Militärregierung auch für ihre eigene Blutspur sorgt,
       siehe das Massaker an Mursi-Anhängern bei der Rabaa-Adawiya-Moschee vom
       vergangenen August.
       
       Im Westen finden sich viele Forschungseinheiten, welche die ägyptische
       Situation analysieren und nur einen sehr vagen Begriff von ägyptischer
       Kultur sowie kollektiven Befindlichkeiten haben und stattdessen exklusiv
       die staatlichen Institutionen betrachten, aus westlicher Perspektive,
       versteht sich.
       
       ## Schlüpfrige Toilettenwitze
       
       Gleichzeitig hat sich in Ägypten selbst eine meist Englisch sprechende
       Kaste von Kommentatoren formiert, die sich auf Witze über Ägypter
       spezialisiert. Dieser „Humor“ ist häufig seltsam schlüpfrig, womit klar
       ist, dass er sich nicht an ein einheimisches Publikum richtet, das nämlich
       schätzt Toilettenwitze wenig. Vielmehr bricht sich hier eine Aggression
       gegenüber denjenigen Bahn, die nicht in der Position sind, um zu antworten.
       Jeder, der schon einmal etwas von Kolonialismus beziehungsweise
       Postkolonialismus gehört hat, versteht, dass für Leute, die nur einen Pass
       haben und ihr Leben an einem Ort einrichten müssen, diese Witze nicht
       lustig sind.
       
       Viele, die schon vom ersten Tag von Mursis Präsidentschaft geschrien haben
       „irhal irhal!“ (tritt zurück), dann flugs die Seiten wechselten, tun heute
       so, als ob sie mit seiner Verhaftung nichts zu tun hätten. „Wir wollten
       doch nie die Armee“, sagen sie. Was für ein nichtsnutziges Statement. Denn
       es liegt nun mal auf der Hand, dass die Armee seit Beginn der Revolution
       die Transformation in Ägypten bestimmt. Entsprechend ist es auch kein
       Wunder, dass Ägypter, die einfach ihr Leben leben wollen, die Nase voll
       haben von Revolutionären, die keine Verantwortung für ihre Handlungen
       übernehmen.
       
       Insgesamt aber gilt: Wer die Entwicklungen in Ägypten nur als Staatsstreich
       der Militärs liest, schürft nicht tief genug. Zu den wichtigsten Dingen,
       die man begreifen sollte, zählt, dass der politische Islam in Ägypten für
       eine riesige Welle gesorgt hat, die Auswirkungen auf die gesamte arabische
       Welt hat. Diese beginnen sich gerade erst abzuzeichnen und sie dürften
       einen Meilenstein bedeuten für die kulturellen Folgen der Revolution, die
       2011 begonnen hat.
       
       ## Die Landesgrenzen schützen
       
       Dann muss gesehen werden, dass die Mehrheit der Ägypter wollte, dass die
       Militärs die Macht wieder übernehmen. Das heißt, sie müssen jetzt wieder
       mit der eisernen Faust leben und eben nicht mehr mit einer unberechenbaren
       Theokratie wie unter Mursi. Es handelt sich um eine fortlaufende
       Revolution, sie ist längst nicht abgeschlossen. Und wie die Franzosen
       damals haben auch wir in Ägypten Zeit. Die dringendsten Gebote der Zeit
       sind die Befreiung der politischen Gefangenen und Journalisten und die
       Reformierung der Wirtschaft. Für die Mehrheit der Ägypter ist das wichtiger
       als ein „Übergang zur Demokratie“, wie es in den Politikwissenschaften
       heißt. Denn das haben sie ja gerade erst versucht und das Ergebnis war
       unbefriedigend, vorsichtig ausgedrückt.
       
       Ebenso wichtig ist es, wenn auch ungleich schwieriger, mit den Islamisten
       einen politischen Kompromiss zu finden. Im Moment scheint da jeder Weg
       verbaut. Und es wird der Zeitpunkt kommen, an dem die Armee ihre Macht
       überstrapaziert. Denn wie jedes Militärregime verfügen Sisi und seine Leute
       nicht über die Mittel und Kompetenzen, die für Ägypten notwendigen Reformen
       auf den Weg zu bringen. Und was passiert dann? Ich weiß es nicht.
       
       Aber mir scheint, dass es für die kollektive Psyche wichtig ist, dass das
       Land von einer starken nationalen Institution regiert wird, obwohl ihre
       Macht völlig intransparent ist. Das erlaubt, innerhalb der Landesgrenzen
       nach Lösungen zu suchen, die das Land davor bewahren, in dem Chaos zu
       versinken, das gerade jeder Ägypter aus nächster Nähe erlebt.
       
       10 Feb 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sarah Eltantawi
       
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