# taz.de -- Solidarität in Berlin: „Gezi hat die Türken politisiert“
       
       > Die Gezi-Proteste in der Türkei haben auch Berlin bewegt - in einem Buch
       > über den "türkischen Sommer in Berlin" spüren Ebru Tasdemir und Canset
       > Icpinar dem nach.
       
 (IMG) Bild: Solidarität mit den Protestierenden in der Türkei: Demonstrierende am Kottbusser Tor im Juni 2013
       
       taz: Frau Tasdemir, Frau Icpinar, im vergangenen Sommer sind ausgehend vom
       Gezipark in der Türkei landesweite Proteste gegen den autoritären
       Regierungsstil des Ministerpräsidenten Erdogan ausgebrochen. Auch in Berlin
       gab es Demonstrationen. Wie haben Sie die Protestwelle hier erlebt? 
       
       Ebru Tasdemir: Bezeichnend war, dass am 31. Mai [als Polizisten gewaltsam
       den Gezipark in Istanbul stürmten, Anm. d. Red.] sofort eine Demonstration
       in Berlin am Kottbusser Tor stattfand. Dabei waren rund 500 bis 600
       Studenten aus Istanbul. Schon am nächsten Tag gab es eine weitere
       Demonstration mit fast 5.000 Menschen. Als dann am 16. Juni der Gezipark
       brutal geräumt worden war, kam es zu einer Demonstration mit rund 10.000
       Menschen, die von Kreuzberg bis vor die türkische Botschaft in Tiergarten
       führte. Spätestens im Juli ebbten die Demonstrationen dann ab.
       
       Wer war alles unter diesen Demonstrierenden? 
       
       Tasdemir: Auffallend war, dass am Anfang viele Proteste zusammengeführt
       wurden: Aleviten, Sunniten, Kurden, Kemalisten, Linksnationalistische,
       Atheisten, AKPler und Fußballfans türkischer Clubs. Das wäre vorher nie
       denkbar gewesen. Diese anfängliche Solidarität unter den Türken hat hier
       aber recht schnell wieder nachgelassen. Ansonsten wurden die Proteste
       natürlich auch durch Linke, Autonome, nichttürkische und unpolitische
       Menschen begleitet.
       
       Sie schreiben in Ihrem Buch auch von Streitigkeiten innerhalb von Familien:
       Regierungsanhänger gegen Gezi-Sympathisanten. Wie sahen da die
       Auseinandersetzungen aus? 
       
       Canset Icpinar: Gerade in Familien, in denen sowohl rechte, konservative,
       religiöse als auch linke Ansichten vorkommen, war es teilweise sehr heftig.
       Viele sind sich zu der Zeit dann auch aus dem Weg gegangen. Zumindest kann
       ich das aus dem näheren Umfeld und aus Gesprächen mit vielen Familien
       berichten.
       
       Haben solche Begegnungen und auch Auseinandersetzungen das Verhältnis der
       Türken in Berlin untereinander langfristig verändert? 
       
       Icpinar: Nachhaltige Veränderungen im Sinne einer Annäherung gab es unter
       den ganz unterschiedlichen türkischen Gruppierungen leider nicht. Aber ich
       denke, gesehen zu haben, wie unterschiedlich die Gruppierungen der hier
       lebenden Türken sind, hat den Blick auf die türkische „Community“
       verändert.
       
       Wie haben diese Protestformen gegen eine – zumindest in der Türkei –
       gewaltsame Staatsmacht auf Sie gewirkt? 
       
       Tasdemir: Uns war zu Beginn noch gar nicht klar, dass wir ein Buch über die
       Proteste schreiben werden. Aber Gezi hat so eine Kraft in der Türkei
       hervorgebracht, vor allem was den friedlichen und kreativen Protest angeht.
       Das fand ich spannend. Entscheidend war für uns dann aber zu fragen, was
       bei uns passiert, was die Proteste in der Türkei bei den türkischstämmigen
       Menschen hier ausgelöst haben.
       
       Das Vorgehen der türkischen Polizei, was hat das bei den Berliner Türken
       ausgelöst? 
       
       Icpinar: Gezi hat in Berlin ein Stück weit die hier lebenden Türken
       politisiert. Auf einmal sind viele Menschen auf die Straße gegangen, die
       vorher niemals auf einer Demonstration waren. Diese Auswirkungen auf die
       Türken in Berlin versucht das Buch zu fassen.
       
       Tasdemir: Man darf nicht vergessen, dass viele hier wegen der Brutalität
       der Staatsmacht sehr angespannt waren – allein weil viele Verwandte in den
       damals betroffenen Städten leben. Und um diese Anspannung loszuwerden und
       sich solidarisch zu zeigen, ist es das Einfachste, in den öffentlichen Raum
       zu gehen. Genau so, wie es die Menschen in der Türkei getan haben.
       
       Icpinar: Jeder hat natürlich, so wie auch in der Türkei, unterschiedliche
       Gründe gehabt, mitzuprotestieren. Hier waren Studenten aus der Türkei mit
       einer großen emotionalen Nähe zum Herkunftsland. Dann die hier
       Eingewanderten, die sich bis heute für die politischen Verhältnisse in der
       Türkei eher interessieren als für die deutschen. Und was diejenigen angeht,
       die hier geboren und aufgewachsen sind: Sie kennen das Land aus dem Urlaub
       – also ein entspanntes Verhältnis –, vielleicht schon mit einem Interesse
       an den politischen Geschehnissen dort. Aber erst durch Gezi wurde auch eine
       emotionale Verbundenheit mit den politischen Zuständen in der Türkei
       spürbar.
       
       In Ihrem Buch zitieren Sie die Schriftstellerin Sema Kaygusuz, die über die
       Proteste in der Türkei schrieb: „Ich bin 41 Jahre alt und habe nun zum
       ersten Mal ein Land.“ Auch Sie schreiben: „Vielleicht fühlten wir uns das
       erste Mal wirklich mit dem Land verbunden.“ Können Sie dieses Gefühl
       beschreiben? 
       
       Icpinar: Viele Berliner Türken waren begeistert vom Mut und Tatendrang der
       Demonstranten in der Türkei, fühlten sich emotional verbunden – und
       plötzlich merkten besonders junge Menschen: Ich bin vielleicht doch
       verbundener mit dem Herkunftsland meiner Eltern, als ich es gedacht hatte.
       
       Tasdemir: Für mich persönlich kann ich sagen: Da waren so viele Menschen,
       mit denen ich mich identifizieren konnte. Menschen, die sich einen Tag nach
       der brutalen Räumung des Parks wieder dorthin begaben und den Polizisten
       Bücher vorlasen. Überhaupt waren die Proteste gekennzeichnet durch
       Friedlichkeit und Kreativität. Diese Momente der Schönheit und
       Menschlichkeit haben mich sehr bewegt.
       
       Twitter- und Youtube-Sperren, Korruptionsskandale, in den letzten Monaten
       ist es in der Türkei wieder zu landesweiten Protesten gekommen. Gab es
       erneut vergleichbare Solidaritätsbekundungen in Berlin wie vergangenes
       Jahr? 
       
       Tasdemir: Gezi reloaded? Eher nicht. Jetzt am 11. März, als Berkin Elvan
       starb [der 15-Jährige wurde bei den Protesten von einer Tränengaspatrone
       verletzt und starb nach neunmonatigem Koma, Anm. d. Red.], hatten wir
       wieder kurzzeitig das Gefühl, dass hier die Zeit stehen bleibt. Am Abend
       versammelten sich Hunderte von Menschen in vielen Städten Deutschlands und
       natürlich in Berlin und trauerten. Am Folgetag waren abends erneut ein paar
       hundert Menschen am alevitischen Gotteshaus und am Kottbusser Tor. Aber
       gegen die Twitter- und Youtube-Sperre gehen Berliner eher nicht auf die
       Straße.
       
       Am Wochenende waren Kommunalwahlen in der Türkei – wie sieht die Stimmung
       innerhalb der türkischen Community hier aus? 
       
       Tasdemir: Die türkische Community gibt es nicht, genauso wenig, wie es nur
       eine türkische Gesellschaft gibt. Fakt ist aber, dass die türkische
       Innenpolitik einen Großteil der Gespräche hier ausmacht. Und auffällig
       viele junge Leute aus Berlin wollen im August an der Wahl des
       Staatspräsidenten teilnehmen. Und zu den Kommunalwahlen – spätestens wenn
       man die Autokorsos der jubelnden AKP-Anhänger am Hermannplatz hört, ist für
       mich eindeutig klar: Gezi und die Nachbeben, das bleibt ein Thema in
       Berlin.
       
       31 Mar 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Baran Korkmaz
       
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