# taz.de -- Verletzter Demonstrant vom Maidan: In der Schusslinie
       
       > Gennadij Midwitschuk demonstrierte in Kiew, als ihn drei Kugeln trafen.
       > Er wurde in einem deutschen Krankenhaus behandelt. Die Schilderung einer
       > blutigen Nacht.
       
 (IMG) Bild: Der Maidan in Kiew am 19. Februar, der Nacht, in der Gennadij Midwitschuk angeschossen wurde
       
       Ich bin kein Krieger. Und auch kein Kanonenfutter. Eigentlich bin ich ein
       apolitischer Mensch. Ich mag Politik nicht, egal in welcher Form. Ich bin
       auch nie wählen gegangen, weil sowieso alles vorher abgekartet ist, alles
       korrupt. Aber unsere regierenden Politiker waren verrückt geworden. Sie
       trugen Armbanduhren für 150.000 Euro. Überall stahlen sie Geld und protzten
       voreinander damit, wer das teuerste Auto besaß. Das waren die Leute leid.
       
       Am 14. Februar bin ich zum ersten Mal auf den Maidan gegangen, also vier
       Tage vor der Nacht, in der ich angeschossen wurde. Ich ging aus Neugier.
       Ein Freund, der Journalist ist, nahm mich mit. Ich wollte wissen, wer
       hinter den Hundertschaften auf dem Maidan steht, wer sie finanziert. Als
       ich dort war, stellte ich fest: Es waren zum Beispiel Geschäftsleute, die
       Läden für Militärbedarf besaßen. Von denen wurden die Menschen mit Helmen,
       Gasmasken und Stiefeln ausgestattet. Woher sie die kugelsicheren Westen
       hatten, weiß ich nicht.
       
       Viele haben für den Maidan gespendet und brachten Essen. Die Alten, die
       gegen die Deutschen gekämpft und den Krieg überlebt hatten, spendeten ihre
       karge Rente von 100 Euro und sagten: „Kinder, Ihr müsst gewinnen!“ Da habe
       ich begriffen, dass keiner der Demonstranten auf dem Maidan wegen des
       Geldes dort war. Alles, auch die Hundertschaften, waren selbst organisiert
       – zum Schutz gegen die Polizei.
       
       In der Hundertschaft, der ich mich anschloss, waren gewöhnliche Leute, ein
       Professor zum Beispiel, zwei Studentinnen, Menschen aus Lwiw, aus Ternopol.
       Militärs waren nicht dabei. Wir hielten auf dem Maidan Wache. Wir liefen
       über den Platz, um die Demonstranten zu verteidigen. Die Berkut-Truppen
       sollten nicht denken, dass wir völlig wehrlos seien.
       
       Die Janukowitsch-Leute, die „Tituschki“, die haben Geld bekommen. 200
       Hrivna am Tag, oder 20 Euro. Oft stammten sie aus armen Gegenden, um Donezk
       zum Beispiel. Das sind Menschen, die von klein auf gelernt haben, dass man
       andere schlagen muss, um nicht selbst geschlagen zu werden. Diese Typen
       waren zwar in zivil auf dem Maidan. Aber man konnte sie an ihrem
       Gesichtsausdruck erkennen. Sie schauten wie gejagte Wölfe drein. Die
       Demonstranten hatten ganz andere Augen. Sie waren auf die Straße gegangen,
       um die Kultur zu ändern. Für eine Welt, in der man nicht zuschlagen muss,
       sondern in der Gesetze die Menschen schützen.
       
       ## In der Stadt herrschte eine Art Kriegszustand
       
       Am Abend des 18. Februar fingen die Berkut plötzlich an zu schießen. Die
       Berkut sind eine Spezialeinheit der ukrainischen Milizija, die dem
       Innenministerium unterstellt war. Ich war auf der Geburtstagsfeier eines
       Freundes, als ich im Fernsehen sah, was auf dem Maidan los war. Ich rief
       den Kommandanten meiner Hundertschaft an und fuhr sofort los. In der Stadt
       herrschte eine Art Kriegszustand. Die Leute stürmten in die Geschäfte, um
       sich mit Salz und Zucker einzudecken. Die U-Bahn war geschlossen. Nur
       Berkut-Einheiten und die von der Regierung bezahlten Schlägertrupps, die
       „Tituschik“, wurden mit der Bahn in die Innenstadt geschleust. Normale
       Leute, wie mich, haben sie nicht reingelassen. Jemand nahm mich im Auto
       mit, kostenlos.
       
       Es war gegen sieben oder acht Uhr am Abend und schon dunkel. An dem Platz,
       an dem meine Hundertschaft bisher gestanden hatte, war niemand. Man hörte
       die ganze Zeit über Explosionen, weil die Soldaten Lärm- und
       Tränengasgranaten zwischen die Demonstranten warfen.
       
       In friedlichen Zeiten ist der Maidan ein sehr schöner Platz. Schon früher
       kam dort das Volk zusammen, wenn es etwas zu sagen gab. Zu Beginn der
       Demonstrationen im November kamen zuerst die Studenten. An jenem Abend war
       der Protest schon auf dem Höhepunkt angelangt. Alte, Junge, Professoren,
       die Intelligenzija, ganz Kiew stand dort. Sie wollten die Diebe, die sie
       regierten, nicht mehr im Amt sehen. Als ich ankam, hatten die
       Berkut-Truppen schon den halben Platz geräumt.
       
       Ich zog Helm, Gasmaske und eine kugelsichere Weste an und schnappte mir
       einen Knüppel. Einen Schild nahm ich nicht. Ich dachte, wenn es
       handgreiflich wird, stört das nur. Geschlagen habe ich mit meinen Knüppel
       aber keinen einzigen. Es waren die Berkut, die einfach drauflos schossen.
       Auf unbewaffnete Menschen! Niemand, den ich auf dem Maidan kannte oder
       gesehen habe, hatte zu dem Zeitpunkt eine Schusswaffe. Ich kannte auch
       welche vom rechten Sektor. Auch die hatten keine Waffen. Dabei hätten wir
       welche gebraucht.
       
       ## Babuschkas beteten das Vaterunser
       
       Ganz vorne standen Männer, die unserer Reihen mit Schilden abschirmten. Ich
       stellte mich hinter die erste Reihe und wartete darauf, dass die Berkut
       angreifen. Wir warteten bestimmt zwei Stunden. Zwischen uns und deren
       Truppen brannten Zelte und Gummireifen. Sie versuchten näher zu kommen und
       wir bildeten einen lebendigen Zaun. Hinter uns standen Frauen und Ältere,
       die gaben Flaschen und Pflastersteine nach vorne und warfen
       Molotowcocktails. Dahinter standen Babuschkas und beteten das Vaterunser.
       Eine Frau auf der Bühne sang „Herr, sei gnädig! Herr, sei gnädig!“
       
       Die Berkut standen zwanzig Meter von uns entfernt, als sie das Feuer
       eröffneten. Sie schossen mit Pumpguns! Es gab die „Guten“, die in die Luft
       schossen. Und es gab die, die auf die Beine zielten, und es gab die
       Sadisten, die ins Gesicht zielten. Die Aluminiumschilde, die wir hatten,
       schützen zwar aus der Entfernung vor den Kugeln, aber nicht aus der Nähe.
       Sobald jemand getroffen war, zog ihn ein anderer von hinten heraus und
       jemand anderes nahm seinen Platz in der Reihe ein. Das alles war für mich
       so unwirklich. So ein Heldentum! Und niemand hat dafür auch nur eine Kopeke
       bekommen. Nur die Idee zählte.
       
       Der Typ, der auf mich schoss, hat absichtlich in mein Gesicht gezielt, denn
       ich trug eine kugelsichere Weste und einen Helm. Ich habe mich gedreht.
       Deswegen hat er mich nur an der Seite erwischt. Eigentlich sind die Kugeln,
       die meinen Kopf trafen, ein Klacks. Die nimmt man für die Jagd auf Hasen
       oder Vögel. Aber wenn sie dich direkt ins Auge treffen, können sie dich
       töten. Oder wenn sie dich aus kurzer Distanz ins Herz treffen. Ein Mädchen
       – sie war 27 Jahre alt – bekam so ein Ding ins Auge. Jetzt liegt sie hier
       im Koma. Ich hatte Glück.
       
       Als ich getroffen wurde, hörte ich plötzlich nichts mehr. Die Gasmaske war
       voller Blut. Ich rief nach einem Arzt. Jemand hat mir unter die Arme
       gegriffen und mich ins Profsojus-Haus gebracht. Dort war das provisorische
       Krankenhaus untergebracht. In einem großen Saal standen ungefähr 30 Liegen.
       Ein Arzt sah nach mir, betäubte mich und nähte die Wunden.
       
       Als ich wieder zu mir gekommen war, half ich, weitere Verletzte
       hereinzutragen. Es kamen ja ständig Neue nach. Da waren Leute dabei, die
       standen kurz vor dem Tod. Auf die Barrikaden draußen bin ich nicht mehr
       gegangen. Um zwei Uhr nachts fuhr ich mit dem Taxi nach Hause. Da blieb ich
       auch an den darauf folgenden Tagen.
       
       ## Ich hätte wahrscheinlich geschossen
       
       Hätte ich in dieser Nacht eine Waffe gehabt, hätte ich wahrscheinlich
       geschossen. Dann hätte es den 20. Februar, an dem so viele Menschen
       starben, nicht gegeben. Bereits am 19. Februar tauchten auch auf unserer
       Seite die ersten Waffen auf. Kalaschnikows und Jagdgewehre. Die
       Demonstranten begannen, sich zu bewaffnen. Da haben die Berkut-Truppen
       Angst bekommen und viele „Tituschki“ wechselten die Seite.
       
       Ich denke, es wäre ideal, wenn die Ukraine ein neutraler Staat mit
       europäischer Ausrichtung wäre. So denken viele Ukrainer, die ich kenne. Ein
       Land, wo man russisch, ukrainisch und tatarisch sprechen kann – ganz, wie
       man will. Ein Staat, in dem wir gut mit Russland und gut mit Europa leben.
       Aber die Gesetze müssen europäisch sein, nicht russisch. Und jede Kopeke,
       die durch staatliche Hände fließt, muss kontrolliert werden. Sonst wird das
       Geld gleich wieder gestohlen.
       
       Das war auch das Ziel der Demonstranten vom Maidan: Die Regierung zu
       kontrollieren. Leute, wie die vom Rechten Sektor, beobachten die Regierung
       mit Argusaugen. Und dafür werden sie in den russischen Medien als
       „Faschisten“ beschimpft. Ich habe auf dem Maidan kein einziges
       antisemitisches Wort gehört. Mein Onkel und mein Cousin auf der Krim
       glauben mir nicht. Sie schauen nur russisches Fernsehen und denken, was in
       Kiew stattfand, sei ein antirussischer Putsch der „Faschisten“ gewesen. Die
       Medien sind die schlimmste Waffe.
       
       Ich will keinen Krieg mit Russland. Soll sich Russland die Krim und den
       Osten holen, dann wird die Ukraine eben kleiner. Aber sie wird uns gehören.
       
       Wenn die anderen Demonstranten nicht weiter für Veränderung einstehen,
       werde ich auch nicht weiterkämpfen. Dann wandere ich aus. Ich habe in den
       1990er Jahren lange in Ungarn gelebt und habe einen ungarischen und keinen
       ukrainischen Pass. Deswegen kann ich auch nicht zur Wahl am 25. Mai gehen.
       Aber ich stifte alle meine Freunde an, zu wählen. Alle!
       
       Ich bin für Anatolij Gritsenko. Der war einmal Verteidigungsminister. Er
       gehört zu keiner der bekannten Oppositionsparteien. Er will die Bevölkerung
       bewaffnen, damit sie sich selbst verteidigt. Und er will die Auswanderung
       stoppen. Vor allem muss Europa all die Prozesse, die jetzt in der Ukraine
       stattfinden, genau beobachten und kontrollieren. Und zwar jede Minute.
       Sonst ist bald alles im Arsch.
       
       Protokoll: Nancy Waldmann
       
       10 Apr 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gennadij Midwitschuk
       
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