# taz.de -- Sportjubilarin Gretel Bergmann: Die Alibi-Jüdin
       
       > Als Feigenblatt wurde die deutsche Hochspringerin Gretel Bergmann 1936
       > für die Olympischen Spiele nominiert. Antreten ließ man sie nicht.
       
 (IMG) Bild: Wurde 1936 zum Spielball der Weltpolitik: die heute hundetjährige Gretel Bergmann (Aufnahme von 1999).
       
       NEW YORK taz | Gretel Bergmann, die mittlerweile Gretel Lambert heißt, ist
       das alles ein bisschen zu viel. Und das nicht nur, weil sie 100 Jahre alt
       wird an diesem Samstag. Die ständigen Anrufe von Honoratioren und Reportern
       und die ganzen Besuche in ihrem etwas windschiefen Wohnhaus im
       kleinbürgerlichen Wohnviertel Jamaica Estates im New Yorker Bezirk Queens
       strengen sie an. „Ich freue mich natürlich“, sagt sie diplomatisch in ihrem
       Mix aus schwäbischer Intonation und New Yorker Dialekt, „aber ich bin auch
       froh, wenn es wieder vorbei ist.“
       
       So viel Aufhebens um ihre Person, das hat sie vor fünf Jahren schon einmal
       erlebt, und sie hat sich schon damals nicht so richtig wohl damit gefühlt.
       Damals lief „Berlin ’36“, der Spielfilm mit ihrer Lebensgeschichte, in
       Kinos auf der ganzen Welt, und auf einmal wollte jeder mit ihr sprechen. 65
       Jahre lang hatte sie vorher in völliger Anonymität in New York gemeinsam
       mit ihrem Mann Bruno gelebt. „Die Frauen in meinem Kegelklub sind aus allen
       Wolken gefallen, als sie mitbekommen haben, wer ich bin. Sie hatten keine
       Ahnung.“
       
       Gretel Lambert hatte nie ihre Geschichte erzählt, sie fand sich nie
       sonderlich interessant oder wichtig. Aber sie kann mittlerweile
       nachvollziehen, dass ihre Vergangenheit die Menschen in ihren Bann schlägt,
       weil sie so viel über das Jahrhundert sagt, das sie erlebt hat. „Berlin
       ’36“, das sind der Ort und das Jahr, die das Leben von Gretel Lambert in
       zwei teilen. Es markiert für sie ewig den Moment, an dem die große
       Weltpolitik sie zum Spielball machte.
       
       Genau genommen begann die Geschichte, die der Film erzählt, für Gretel
       Bergmann bereits im Jahr 1934. Damals besuchte die Tochter eines jüdischen
       Fabrikanten aus der schwäbischen Kleinstadt Laupheim eine Sportakademie in
       England. Man hatte der talentierten Leichtathletin dazu geraten. So lange
       bis der Nazispuk vorbei sei, wie es hieß. Doch dann stand plötzlich eines
       Tages ihr Vater völlig außer sich vor der Tür. Man habe ihm gesagt, sie
       müsse nach Hause kommen, sonst passiere etwas Schlimmes. „Ich habe sofort
       meine Sachen gepackt, ich hatte ja keine Wahl.“
       
       ## Kuhhandel zwischen Nazis und Amerikanern
       
       Gretel Bergmann sollte eine von drei Alibi-Jüdinnen in der deutschen
       Olympiamannschaft sein, zusammen mit den Halbjuden Helene Mayer und Rudi
       Ball. Ihre Berufung in die Kernmannschaft sollte den Boykott der USA
       verhindern. Den Kuhhandel zwischen den Nazis und den Amerikanern fädelte
       der damalige IOC-Präsident Avery Brundage ein, derselbe, der 1972 in
       München nach dem Attentat auf die israelischen Sportler verkündete: „The
       Games must go on.“ Einen abscheulichen Menschen nennt Gretel Bergmann
       Brundage heute noch immer.
       
       Bergmann ging nach Stuttgart und bereitete sich dort artig auf die Spiele
       vor, wohlwissend, dass es zu einem Start ja doch nie kommen würde. Ein
       jüdisches Mädchen vor 100.000 Zuschauern, womöglich eine Siegerehrung, „bei
       der Hitler mir hätte gratulieren müssen“? Das wäre nie passiert. „That
       wouldn’t fly“, sagt sie. Bis heute weigert sie sich, Deutsch zu sprechen.
       Sie könnte das auch gar nicht mehr, behauptet sie.
       
       Nach ihrer Nominierung lebte sie in ständiger Sorge darum, wie die Nazis
       sie wohl stoppen würden, sie rechnete mit dem Schlimmsten. Doch es ging
       schließlich glimpflich ab. Am 16. Juli 1936 bekam Gretel Bergmann einen
       Brief aus Berlin, dass ihre Leistungen eine Nominierung für die olympischen
       Wettbewerbe nicht rechtfertigen würden. Und das, obwohl sie den letzten
       Wettbewerb mit einem Vorsprung von 20 Zentimetern vor der Zweitplatzierten
       gewonnen hatte. Einen Tag zuvor, am 15. Juli, hatten die US-Athleten in New
       York den Dampfer nach Deutschland bestiegen.
       
       Von den Spielen selbst bekam Gretel Bergmann dann nichts mehr mit. Sie weiß
       nicht einmal mehr genau, wo sie sich während der Zeit aufgehalten hat. „Ich
       glaube, ich bin nach Baden-Baden gefahren. Ich wollte nur weg von allem“,
       sagt sie. Ihr geliebter Sport, von den Nazis so übel missbraucht, war ihr
       egal, sie wollte nur noch so schnell als möglich raus aus Deutschland.
       Kurze Zeit später war sie unterwegs nach New York.
       
       ## Eine Verbundenheit gab es nicht
       
       Hier endet das Leinwanddrama, an dem Gretel Lambert allerlei
       Ungenauigkeiten auszusetzen hat. Etwa, dass sie ein freundschaftliches
       Verhältnis mit Dora Ratjen gehabt habe, der Hochspringerin, welche die
       Nazis aufgeboten hatten, um im Zweifel einen Sieg von Bergmann zu
       verhindern.
       
       Ratjen war, wie sich zwei Jahre später herausstellte, ein Mann. Eine
       Verbundenheit der beiden, wie der Film sie konstruierte, auf der Erkenntnis
       fußend, dass beide von den Nazis missbraucht worden seien, hätte es jedoch
       nicht gegeben. „Wir hatten ein ganz normales sportliches Verhältnis – nicht
       mehr, nicht weniger“, sagt Gretel Lambert heute.
       
       Als sie in New York ankam, war sie gerade einmal 24. Doch sie war voller
       Bitterkeit. Die Welt ihrer Kindheit und Jugend, die sie als heil und
       glücklich empfunden hatte, obwohl sie drei Monate vor dem Ausbruch des
       Ersten Weltkriegs auf die Welt gekommen ist, war unwiederbringlich
       verschwunden. Die Welt, in der die behütete Industriellentochter nach
       Herzenslust im Sportverein in Laupheim laufen und springen und Fußball
       spielen konnte und sie für alle nur die Gretel war, und nicht die Jüdin
       Bergmann. Religion habe in ihrem Haus keine Rolle gespielt, sagt sie, sie
       sei sogar mit ihrer besten Freundin in den katholischen Gottesdienst
       gegangen, weil sie eben alles zusammen gemacht hätten.
       
       Doch dann war auf einmal alles anders. Ihre Sportkarriere war jäh
       abgebrochen, sie musste sich in New York mit Gelegenheitsjobs
       durchschlagen. Zeit zum Training hatte sie kaum mehr und es mangelte oft am
       U-Bahn-Geld zum Stadion in der Bronx. Sie hat geputzt und gewaschen und
       später als Krankengymnastin reiche Ladys von der Upper East Side betreut.
       Und eine Zeit lang musste sie mit der Unsicherheit darüber leben, was in
       Deutschland wohl mit ihren Lieben geschieht.
       
       ## Aus der Familie überlebte niemand
       
       Sie hatte Glück. Ihr Verlobter und späterer Ehemann Bruno, auch ein
       Sportler, kam 1938 in die USA, 1939 folgten ihre Eltern. Doch die Familie
       blieb vom Holocaust nicht unberührt. Ihr Vater hatte sechs Wochen im Lager
       verbracht und litt sein Leben lang an den gesundheitlichen Folgeschäden.
       Und aus der Familie ihres Mannes, der nach 75 Ehejahren im vergangenen Jahr
       verstorben ist, überlebte niemand.
       
       Diese Schicksale waren für Gretel Bergmann der Grund, warum sie ihren
       Kegelschwestern nie ihre Geschichte erzählt hat, warum sie überhaupt
       niemandem ihre Geschichte erzählt hat, bevor 2009 der Film herauskam. „Ich
       habe eine Olympiamedaille verloren“, sagt sie, „die anderen haben ihr Leben
       verloren.“
       
       Nicht, dass es nicht an ihr genagt hätte. Noch bei den Olympischen Spielen
       von London 2012 konnte sie sich nicht den Hochsprungwettbewerb der Frauen
       anschauen, ohne daran zu denken, was sie verpasst hat. „Ich war 1936 die
       Beste in der Welt“, sagt sie. 1,60 Meter war damals ihr Rekord. In Berlin,
       da ist sie sich sicher, wäre sie höher gesprungen: „Ich hatte so viel Wut
       im Bauch, ich wäre mindestens 1,70 gesprungen.“
       
       Nun, mit beinahe 100 Jahren, ist die Wut abgeebbt. Der Film hat dabei
       geholfen, „Es hat gut getan, dass meine Geschichte bekannt wurde.“ Es hat
       Entschuldigungen vom IOC und vom deutschen NOK gegeben und Einladungen nach
       Deutschland. Und der Deutsche Leichtathletikverband erkannte dann doch noch
       2009 ihren deutschen Rekord an, den sie 1936 kurz vor den Olympischen
       Spielen aufgestellt hatte.
       
       ## Den eigenen Frieden gefunden
       
       „Ich habe gesehen, dass die jungen Deutschen etwas aus all dem gelernt
       haben. Man war ungeheuer nett zu mir.“ Sogar ein Stadion in Laupheim und
       eine Schule in Hamburg wurden nach ihr benannt. „Wenn die wüssten, wie
       schlecht ich in der Schule war, hätten sie das nie gemacht“, sagt sie.
       
       Gretel Lambert hat ihren Frieden gefunden, sie kann aber noch zornig
       werden. Wenn sie etwa auf die jüngsten Kriege zurückblickt. „Die Leute
       hören einfach nicht auf damit. Das muss doch mal ein Ende haben.“ Oder wenn
       man sie fragt, ob der Westen die Putin-Spiele von Sotschi hätte
       boykottieren sollen. „Auf keinen Fall“, kommt es wie aus der Pistole
       geschossen. „Warum sollen denn immer die Sportler, die so hart gearbeitet
       haben, die Dummen sein?“ Es reicht, dass sie um ihren Ruhm betrogen wurde.
       Das soll nie wieder einem Sportler passieren.
       
       13 Apr 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sebastian Moll
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Leichtathletik
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