# taz.de -- Neues Buch „Im Garten des Blinden“: Gewalt und Schönheit
       
       > Klirrender Schmuck, vibrierende Granaten – der Londoner Schriftsteller
       > Nadeem Aslam erzählt kraftvoll über Pakistan und Afghanistan.
       
 (IMG) Bild: „Frei von moralischer Wertung“: Tonarbeit in Pakistan.
       
       Vorsichtig beugt sich Nadeem Aslam über den niedrigen Tisch und flüstert:
       „Sehen Sie, zum Beispiel der Mann, der gerade an uns vorbeiläuft.“ Er
       deutet mit dem Kopf leicht nach rechts. Ein schwarzer Raumpfleger in
       hellblauem Einteiler trägt gerade einen Staubsauger über den Flur.
       
       Als er unsere Blicke bemerkt, nickt er uns freundlich zu. „Seine Geschichte
       würde mich sehr interessieren“, sagt Aslam, „ich wüsste gern, unter welchen
       Bedingungen er nach Deutschland gekommen ist.“ Vielleicht hat ihn die Reise
       hierher ein Vermögen gekostet, sagt Aslam, vielleicht muss er noch
       jahrelang schuften, bis er sie abbezahlt hat.
       
       Nicht nur hier, in der Lobby eines Viersternehotels in Hannover, offenbart
       der Londoner Schriftsteller eine Faszination dafür, im Kleinen das Große zu
       suchen. Nadeem Aslams jüngster Roman, „Der Garten des Blinden“, spielt
       größtenteils in der pakistanischen Provinz, während der ersten Monate nach
       9/11. Er konzentriert sich auf die im großen Machtgefüge des Weltgeschehens
       unsichtbaren kleinen Schicksale. Zum einen schildert die wunderschön
       verschachtelte Erzählung den Einfluss des Kriegs in Afghanistan auf den
       Alltag im Nachbarland.
       
       Zum anderen aber zeigt sich auch die widersprüchliche Rolle, die Pakistan
       spielte, indem es sowohl gegen als auch für die Intervention der US-Truppen
       in Afghanistan eintrat. „Geschichte ist der dritte Elternteil“, so beginnt
       der Roman. Die Worte seien aus Überlegungen zu seiner eigenen Vita geboren,
       so Aslam. Der 48-jährige Autor ist ganz in Schwarz gekleidet, Stoffhose und
       Seidenhemd. Die große Designersonnenbrille von Tom Ford wird er erst später
       und nur für ein paar Minuten abnehmen. „Wussten Sie, wie viele Menschen in
       ihrem Leben schon einmal im Flugzeug saßen?“, fragt er. „Gerade mal 5
       Prozent der Weltbevölkerung. Das ist doch verblüffend!“
       
       Er selbst ist zum ersten Mal im Alter von 14 Jahren geflogen. Das war 1980,
       als er mit seinen Eltern aus Pakistan nach England auswanderte. Pakistan
       unterlag gerade einer starken Islamisierung und unterstützte den
       islamistischen Widerstand gegen die sowjetische Besatzung in Afghanistan.
       In den 1980er Jahren, so Aslam, sei die dschihadistische Mentalität
       globalisiert worden. Als Nadeem Aslam zum zweiten Mal in einem Flugzeug
       saß, war er schon 33. Fast zwanzig Jahre habe er England nicht mehr
       verlassen, da ihm die finanziellen Mittel fehlten.
       
       ## 9/11 ohne Fernseher
       
       Heute erscheinen seine Romane in 25 Ländern. Im vergangenen Jahr war Aslam
       sechs Monate lang ununterbrochen auf Tour. Reisen sei schön, doch würde er
       sich ständig zurück nach Hause an seinen Schreibtisch sehnen, sagt er. Am
       11. September 2001 war er allein, auf seinem Landhaus im Norden Englands,
       wo er weder Telefon noch Fernseher oder Internetzugang besaß. Er arbeitete
       an dem Roman „Atlas für verschollene Liebende“. Von den Anschlägen auf
       World Trade Center und Pentagon in den USA habe er erst neun Tage später
       erfahren.
       
       „Viele Schriftsteller meldeten sich kurz nach 9/11 zu Wort und meinten, das
       Buch, an dem sie gerade arbeiteten, sei wertlos“, sagt Aslam. „Für mich war
       das nicht der Fall. Ich deutete auf den Bildschirm und sagte: ’Schaut mal,
       sie zeigen meinen Roman. Das ist, worüber ich gerade schreibe‘.“ In „Atlas
       für verschollene Liebende“ beschäftigte sich Aslam über einen „Ehrenmord“
       mit dem Identitätsdilemma pakistanischer Einwanderer in Großbritannien. In
       den religiös begründeten Angriffen auf Menschenwürde und -leben meinte
       Aslam bereits Vorzeichen für die Ereignisse von 9/11 zu erkennen.
       
       Im folgenden Roman, „Das Haus der fünf Sinne“, wiederum rollte er die
       vierzigjährige Geschichte der bewaffneten Konflikte in Afghanistan aus der
       Sicht von russischen, US-amerikanischen und britischen Figuren auf. Nun, im
       neuen Roman, „Der Garten des Blinden“, gibt es diese Außenperspektiven
       nicht mehr. Die Charaktere sind allesamt Bewohner der fiktiven
       pakistanischen Stadt Heer. Die Haltung, die die Bewohner dieses Orts
       dominiert, deutet eine frühe Szene an. Eine Näherin soll eine
       US-amerikanische Flagge herstellen, aus einem Stoff „der nicht zu schnell
       oder zu langsam brennt“.
       
       Während die Erzählstimme durchweg frei von moralischer Wertung bleibt, ist
       Protagonist Rohan, ein gläubiger alter Mann, ständig von
       Gewissenskonflikten geplagt. Die Schule, die er gemeinsam mit seiner Frau
       Sophia gegründet hatte, wurde nach deren Tod von radikalen Islamisten
       übernommen und in eine Art Bootcamp für den Dschihad-Nachwuchs verwandelt.
       Rohan wird von den Islamisten als „Ungläubiger“ denunziert, weil er den
       Glaubenskrieg missbilligt. Selbst bereut er, Sohn Jeo und Adoptivsohn Mikal
       religiös indoktriniert zu haben. Die beiden, um die 20 Jahre alt, sind
       heimlich nach Afghanistan gereist, um bei einer Ärztestation Verwundeten zu
       helfen.
       
       ## Psychologisches und ästhetisches Interesse
       
       Aslam sagt, er selbst sei Atheist und stamme aus einer säkulär
       orientierten, aber gläubigen Familie. In Pakistan, wo er inzwischen jedes
       Jahr Urlaub macht, sei es unmöglich, weiter als drei Menschen entfernt von
       einem Radikalen zu sein. „Ich interessiere mich nicht für den Islam,
       sondern für Muslime. Ich persönlich habe kein Bedürfnis nach einem
       Jenseits. Aber einige Menschen, die mir nahestehen, haben das“, erklärt er
       mit sanfter Stimme. „Und weil ich sie liebe, möchte ich verstehen, warum.
       Mein Interesse als Romancier ist psychologischer wie ästhetischer Natur.“
       
       So erscheint seine Figur des Rohan zwar im Kontrast zu den ihn umgebenden
       Glaubenskriegern als aufgeklärter Muslim. Jedoch offenbaren die
       schmerzhaften Erinnerungen an seine im „Unglauben“ verstorbene Frau Sophia
       auch eine gewisse Radikalität. Als Rohan schließlich nach Afghanistan
       reist, um seine Söhne zurückzubringen, scheint die Erinnerung an Sophia
       dann nur noch Rohans eigenen Zweifeln Gestalt zu geben.
       
       In dem von den Taliban regierten Land nämlich, wo das Klirren von Schmuck
       unter einer Burka das öffentliche Auspeitschen der Trägerin provoziert, ist
       der Islam nicht mehr als ein institutionalisiertes Instrument der
       Unterdrückung. Auch die Logik des Kriegs setzt dem Humanisten in Rohan zu.
       Kleine Kinder, die keine zehn Jahre alt sind, werden von Warlords gefangen
       gehalten und sexuell missbraucht, bevor sie an die US-Armee als
       Kriegsgefangene verkauft werden. Als Rohan eines der Kinder freikauft und
       seinem Gegenüber dabei nicht den angemessenen Respekt erweist, wird ihm mit
       rasiermesserscharfem Rubinpulver das Augenlicht genommen.
       
       ## Der inhumane Mensch
       
       Während der Anfang der Erzählung noch vom sperrigen Symbolismus (Vögel,
       Gärten, Pferde) überladen wirkt, ist es später die ganz nüchterne
       Verschränkung von Gewalt und Schönheit, die „Der Garten des Blinden“ zu
       einem unheimlich kraftvollen Roman macht. Etwa wenn das Vibrieren einer
       Granate, die in der Wand verharrt und nicht explodieren kann, „sekundenlang
       […] die Welt auf Angst und Staunen reduziert“. Brutalität erlangt in Aslams
       Sprache eine abgründige Anmut. Ihre poetische Betrachtung wirkt
       fantastisch, ihre historische Wahrheit verstörend. Sie erscheint so
       inhuman, geht aber tatsächlich vom Menschen aus.
       
       Und dann ist da noch eine Emanzipationsgeschichte. Naheed, die junge Frau,
       die mit Jeo verheiratet und in Mikal verliebt ist, will nach dem Tod ihres
       Mannes studieren und Lehrerin werden – für eine mittellose, verwitwete Frau
       in Pakistan kein leichtes Unterfangen. Unterdrückung erfährt Naheed jedoch
       vor allem von anderen Frauen. Es sind weibliche Patrouillen, die sie daran
       hindern, den Friedhof zu betreten – ein neues Verbot im Zuge der
       voranschreitenden Islamisierung –, und ihre Mutter will sie neu
       verheiraten. Mutter Tara wiederum hat eine eigene Leidensgeschichte.
       
       Ob das deren Ignoranz rechtfertigt? Der Erzähler beurteilt es nicht. Aslam
       erzählt von verschiedenen Ideologien, ohne sie zu rechtfertigen oder zu
       diskreditieren. Dass diese wuchtige Erzählung über weite Strecken ohne Gut
       und Böse auskommt, kann man als Schwäche, aber auch als Stärke von „Der
       Garten des Blinden“ sehen. Allein die Darstellung der vielen Nuancen von
       Radikalität relativiert die Sinnhaftigkeit eines Entweder-oder. Als
       Personifzierung dieser Wertverneinung tritt in einer Schlüsselszene ein
       Fakir in schweren Ketten auf: Wahrheiten gebe es auf der Welt so viele wie
       Staubkörner, sagt er, „mehr, als man zählen kann“.
       
       17 Apr 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Fatma Aydemir
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Pakistan
 (DIR) Schwerpunkt Afghanistan
 (DIR) Roman
       
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