# taz.de -- Debatte Behindertengerechtigkeit: Geldgierige Wohlfahrt
       
       > Deutschland gibt viel Geld aus für Anderstalentierte. Allerdings nicht um
       > sie zu integrieren, sondern um sie lebenslang auszuschließen.
       
 (IMG) Bild: Exklusion statt Inklusion - so die Kritik von Rainer Kreuzer an der Behindertenpolitik in Deutschland.
       
       Die Inklusion geht um in diesem Land. Inklusion, das Fremdwort der UNO: Es
       soll Menschen, die dauerhaft an körperlichen, geistigen oder psychischen
       Handicaps leiden, ein selbstverständliches Miteinander mit anderen Menschen
       garantieren: gleiche Chancen, gleiche Rechte, gleiche Teilhabe.
       
       Eine plurale Gesellschaft der menschlichen Vielfalt. Sozialministerin
       Ursula von der Leyen hat dafür einen nationalen Aktionsplan ins Leben
       gerufen, um diesem Ziel vordergründig ein Stück näher zu kommen.
       Tatsächlich aber geht der Trend in Deutschland hin zu immer mehr Exklusion.
       
       Eigentlich sollte man meinen, dass gemeinnützige Einrichtungen und Träger
       im Dienste des Gemeinwohls arbeiten. Doch weit gefehlt! In den vergangenen
       20 Jahren haben sich die Anbieter pädagogischer Hilfen auf staatliche
       Vorgaben hin in kapitalistische Musterbetriebe umgewandelt. Auch wenn die
       "gemeinnützigen GmbHs" formal keine Gewinne ausweisen dürfen, unterscheiden
       sie sich kaum von den echten Shareholder-Value-Größen an der Börse.
       
       Nichts ist wichtiger, als Umsätze zu steigern, Kapazitäten auszulasten,
       neue Märkte zu erschließen, Konkurrenten zu verdrängen und immer mehr
       Behinderte, die im neoliberalen Neusprech als "Kunden" oder "Nutzer"
       bezeichnet werden, für den geschlossenen Verwertungskreislauf von der
       Frühförderung bis zur Werkstatt, vom Behindertenheim bis hin zu den
       ambulanten Diensten und der anschließenden Pflege zu akquirieren.
       
       ## Behindertenindustrie
       
       Die gesamte Branche lebt von der Exklusion. Sie ist für Länder und Kommunen
       ein teurer Luxus - aber politisch so gewollt, ebenso wie der in den 1990er
       Jahren künstlich geschaffene Wettbewerb der Träger untereinander. Seitdem
       explodieren die Kosten. Die Ausgaben für die sogenannte Eingliederungshilfe
       sind von 1998 bis 2009 um rund 60 Prozent auf über 13 Milliarden Euro
       gestiegen. Je mehr ideologisch über Inklusion geredet wird, desto mehr
       Menschen werden faktisch ausgegrenzt.
       
       Das rasante Wachstum der Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) hat
       bislang jede Prognose übertroffen. In den vergangenen zehn Jahren ist die
       Zahl der Plätze dort um mehr als die Hälfte auf knapp 300.000 in die Höhe
       geschossen. Die Träger expandieren, der Staat zahlt, und für arme Seelen,
       die in der exklusiven "Wissensgesellschaft" keinen Job finden, ist ein
       sicherer WfbM-Platz eine zunehmend interessante Alternative zu einem Leben
       mit Hartz IV.
       
       So wird Ausgrenzung zementiert. Wer in einer WfbM zu arbeiten beginnt,
       bleibt dort bis zur Rente. Noch nicht einmal 1 Prozent ihrer Klienten
       können die Werkstätten auf den ersten Arbeitsmarkt vermitteln, obwohl dies
       ihr Auftrag ist. Der gesetzliche Begriff der Eingliederungshilfe wirkt wie
       ein Hohn. Es ist vielmehr die Ausgliederungshilfe, für die der Staat sein
       Geld ausgibt.
       
       ## Lukrative Unselbständigkeit
       
       Im Wohnbereich sieht es kaum anders aus. Die Zahl der Heimplätze ist steil
       gestiegen und stagniert nun bei rund 200.000. Fast 90 Prozent der Gelder
       fließen in stationäre Einrichtungen, während die ambulante
       Alltagsbegleitung zur billigen Discounthilfe abqualifiziert wird.
       
       Allzu viel pädagogischer Einsatz könnte zu mehr Eigenständigkeit führen.
       Damit die Heimbewohner aber im Heim wohnen bleiben, wird auf pädagogisches
       Fachpersonal immer mehr verzichtet. Ein staatlich gefördertes Heer von
       Freiwilligen übernimmt im großen Maße die Arbeit mit den Menschen. Immer
       mehr Nichtfachkräfte und Praktikanten drücken die Löhne der Fachkräfte.
       
       Pädagogische Förderung bleibt da auf der Strecke - Inklusion: eine
       Illusion! Das frustriert die anfangs hochmotivierten Heilerzieher. Ständig
       wechselnde Belegschaften, unbezahlte Helfer, die permanent eingearbeitet
       werden müssen, und eine zunehmende Flut unnützer Formulare, die aus
       bürokratischen Gründen ausgefüllt werden müssen, fördern Resignation und
       den Rückzug auf Routinearbeiten.
       
       Doch die Nachfrage steigt immer weiter. Vor allem die Gruppe jener
       Menschen, die als geistig, lern- oder psychisch behindert eingestuft
       werden, wächst besonders schnell. Je höher die Gesellschaft ihre
       Anforderungen ans rein abstrakte Denken schraubt, mehr Stress und
       Leistungsdruck inszeniert, umso mehr Kinder und Erwachsene fallen raus. Wer
       zappelt, hat ADHS, wer sich nicht anpasst, eine "Störung des
       Sozialverhaltens". Für jede Abweichung von der Norm findet sich inzwischen
       eine Schublade im Diagnoseschlüssel der ICD-10. Daran verdienen Ärzte und
       Pharmaindustrie. Ist der junge "Patient" erst einmal ins Hilfesystem
       eingeloggt, führt sein Weg nach der Sonderschule immer häufiger direkt in
       die Werkstatt.
       
       ## Geld kommt nicht an der richtigen Stelle an
       
       Die desaströse Bilanz der deutschen Behindertenhilfe lässt sich mit
       mangelnden Finanzen nicht erklären. Das Geld fließt in Strömen. Es wird
       allerdings zweckentfremdet eingesetzt. Finanziert wird die Behinderung,
       nicht deren Überwindung. Je mehr Hilfebedürftige, je höher deren Bedarf,
       desto mehr Geld erhalten die Dienstleister.
       
       Inklusion wäre das genaue Gegenteil: die soziale Aufhebung von Behinderung.
       Hierfür müssen die Träger aber erst noch staatlicherseits zum Umsteuern
       gezwungen werden. Die ambulanten Hilfen im privaten Wohnbereich müssen
       weitaus besser als die stationären vergütet werden. Der dauerhafte Verbleib
       im Heim und in der WfbM darf sich nicht länger lohnen. Abnehmende
       Vergütungssätze, hohe Erfolgsprämien für die Vermittlung auf den ersten
       Arbeitsmarkt sowie in eine eigene Wohnung könnten motivieren. Arbeitgeber
       müssen gesetzlich ausnahmslos gezwungen werden, Menschen mit Behinderung zu
       beschäftigen.
       
       Das Schlupfloch über die symbolisch geringen Ausgleichszahlungen, mit denen
       sich die Unternehmen von ihrer Beschäftigungspflicht noch immer freikaufen
       können, muss gestopft werden. 300.000 Behinderte aus den Werkstätten kann
       die deutsche Wirtschaft mühelos integrieren durch individuell passende
       Teilzeitjobs und mit Sozialpädagogen, die sie begleiten. So viel
       Aktionsplan und Inklusion muss sein! Das teure System der Ausgrenzung würde
       dann einstürzen. Ende der VerAnstaltung!
       
       15 Jul 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Rainer Kreuzer
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Entschädigung
 (DIR) Hochschule
       
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