# taz.de -- Kolumne Erwachsen: Das innere Innsbruck
       
       > Wenn die Sex-Touristen in Berlin einfallen, werden die Einheimischen zu
       > Sehenswürdigkeiten. Oder: Wie ich zum Brandenburger Tor wurde.
       
 (IMG) Bild: Völker der Welt, kommt in diese Stadt!
       
       Zwei Millionen Touristen waren über Ostern zu Besuch in Berlin, davon – so
       zumindest mein Eindruck – die Hälfte homosexuelle Sex-Touristen. Das
       „Folsom“-Fetischfestival lockte in die deutsche Hauptstadt, und im Berghain
       findet die – womöglich – allergrößte Sex-Party der Welt statt, deren Besuch
       im letzten Jahr bei mir Panik verursacht hatte: Komme ich hier je wieder
       raus? Oder werde ich von 30.000 Halb- und Ganznackten im Drogenrausch
       niedergetrampelt, von einer amorphen, verschwitzten Masse, die babylonisch
       bassumwummert vor sich hinbrabbelt.
       
       Als Einheimischer wird man in Berlin, der Tourismus-Metropole, schon mal
       von Fremdenangst übermannt. Als ob man nicht so schon genug mit den
       Einheimischen zu tun hätte, die Rolltreppen verstopfen und immer in dem Weg
       herumstehen, den man gerade einzuschlagen gedenkt. Augen zu und durch –
       aber wenn schon mal Sex-Touristen da sind, warum nicht das Brandenburger
       Tor spielen?
       
       ## Ein Mensch im Dunkeln
       
       Dachte ich mir und ging aus. Traf auch einen äußerst angenehmen Menschen im
       Dunkeln, wechselte aber nur ein paar Sätze mit ihm, automatisch auf
       Englisch: „Thank you for these great moments“ oder so. Fragt er: „Are you
       from Germany?“ Sage ich: „Yes“. Sagt er: „I am from Innsbruck, dann könnten
       wir auch Deutsch reden.“ Haben wir aber dann doch nicht, ich ging.
       
       Einen Tag später traf ich ihn durch Zufall wieder, andernorts. Eine
       unwahrscheinliche Begegnung unter diesen Oster-Umständen. Sagt er: „Kennen
       wir uns nicht?“ Sage ich: „Bist du aus Innsbruck?“ Nun unterhielten wir uns
       doch. Sage ich: „Du riechst gut“, und nach einer Pause: „Und du hast auch
       noch was zu sagen.“ Sagt er: „Du bist doch bestimmt aus Berlin, nicht?“
       
       Wie kommt er darauf? „Weißt du, das ist typisch für Großstädter. Diese
       Klassifikationen. Riecht gut. Kann sprechen. Bei uns in Innsbruck ist das
       anders. Das ist eine kleine Stadt, da denkt und fühlt man ganzheitlicher.
       Man trifft die Menschen auch in der Regel wieder, da ist der Umgang ein
       anderer.“
       
       So ist es also, wenn man tatsächlich zum Brandenburger Tor geworden ist,
       ohne es zu merken. Petrifiziert. Aus alltäglicher Notwehr abgestumpft.
       Jeder bekommt in Sekundenschnelle ein Etikett aufgeklebt, damit man die
       Situation – etwa eingepfercht mit Fremden in einem U-Bahn-Waggon – unter
       Kontrolle zu haben glaubt. Riecht gut. Kann sprechen.
       
       Was ist eigentlich aus meinem inneren Innsbruck geworden? Ein Ort zum
       Beispiel, an dem man sich zuerst unterhält und dann miteinander schläft,
       anstatt umgekehrt? Ein Ort, an dem man sich verbindlich verabredet. Zum
       Spazieren im Wald. Ein Ort, wo man Kleidung trägt, wenn man ein Lokal
       besucht.
       
       Ich weiß es nicht. Aber der junge Mann ist wieder in seinem Innsbruck. Er
       hat einen Lebensgefährten. Zusammen waren sie nach Berlin gekommen, um ein
       paar Tage Urlaub in Sodom und Gomorra zu machen.
       
       Und ich? Ich lebe hier. Solange ich bei Begegnungen mit fremden Menschen in
       Zukunft nicht sage „Dunkle Haare“ oder „südwestdeutscher Akzent“ statt
       „Guten Tag“ überlebe ich das auch noch eine Weile.
       
       23 Apr 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Martin Reichert
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Homosexualität
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 (DIR) Bachelor
       
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