# taz.de -- Schock und Tränen in Odessa: Kaum noch Hoffnung
       
       > In der einst friedlichen Metropole stehen sich erbitterte Feinde
       > gegenüber. Die einen wollen kämpfen, die anderen haben Angst.
       
 (IMG) Bild: Zahlreiche prorussische Aktivisten sind in dem Gebäude ums Leben gekommen.
       
       ODESSA taz | Vor dem Bahnhof der ukrainischen Hafenstadt Odessa stehen
       Menschen in langen Schlangen nach Fahrkarten an. Wer bereits ein Ticket
       hat, versucht es umzutauschen, um einen früheren Zug nehmen zu können. Nur
       weg hier, in Richtung Westen, heißt die Devise.
       
       In der Innenstadt bemühen sich Reinigungskräfte, den Platz um das Gebäude,
       das von prorussischen Kräften besetzt worden war und in dem es am
       vergangenen Freitag gebrannt hat, zu säubern. Dabei sollen nach Angaben von
       Wadim Sawenko, dem Abgeordneten des Regionalrates, 116 Menschen getötet
       worden sein. Die Regierung in Kiew spricht bislang von 46 Toten.
       
       Sawenko geht von vorsätzlichem Mord aus: „Die Opfer sind nicht einfach nur
       umgekommen, sondern ermordet worden. Die Leichen hatten Schussverletzungen
       am Kopf und starke Verbrennung am Oberkörper. Es scheint, als hätte man
       ihre Identität unkenntlich machen wollen“, sagte Sawenko der
       Nachrichtenagentur Odessa Media. Am vergangenen Samstag wurde der örtliche
       Polizeichef entlassen. Der Gouverneur des Gebietes Odessa, Wladimir
       Nemirowskij, der erst seit zwei Monaten im Amt war, wurde von der Kiewer
       Regierung abgesetzt.
       
       Doch unabhängig davon, wie viele Menschen am Freitag ihr Leben verloren
       haben: Odessa steht unter Schock. „Sprechen Sie auf der Straße irgendeine
       Frau auf den Brand an – sie wird nur eins tun: weinen. Die Männer hier sind
       genauso schockiert, nur weinen sie nicht. Aber sie sind sehr nachdenklich
       geworden“, sagt Natalja, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte.
       
       ## Als Faschisten beschimpft
       
       Rückblende: Auf der zentralen Deribasowskaja-Straße taucht am vergangenen
       Freitag eine Gruppe junger Männer in auffälliger schwarzer Kleidung auf.
       Einer trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift: „Wer nicht leckt, der bläst“.
       Der Spruch ist eine deutliche Anspielung auf das proukrainische Lied „Wer
       nicht reiten kann, der ist ein Moskal“. Als Moskal werden in der Ukraine
       abwertend Russen bezeichnet, in Anspielung auf Moskau.
       
       Die prorussischen und ukrainischen Anhänger kopieren sich gegenseitig bis
       ins kleinste Detail. In der russischen Presse werden Ukrainer als
       Faschisten bezeichnet, in der ukrainischen Presse dagegen sind die Russen
       die Faschisten.
       
       An diesem Freitag spielt der Fußballverein Metallist Charkow gegen
       Tschornomorez Odessa – die Fans beider Mannschaften versammeln sich vor
       Beginn des Spiels und besprechen eine neue Strategie. „Anstatt sich
       untereinander zu prügeln, schließen sie sich jetzt zusammen für eine
       vereinte Ukraine“, sagt der frühere Bürgermeister von Odessa, Eduard
       Gurwitz.
       
       ## Lautes Knacken in der Ferne
       
       Aus Richtung der Preobraschenskaja-Straße steigt Rauch auf und zieht durch
       die Deribasowskaja. Einheimische, die in Straßencafés einen Kaffee trinken,
       recken die Hälse in die Höhe auf der Suche nach dem Ursprung der
       Rauchschwaden. In der Ferne ist ein lautes Knacken zu hören, das an ein
       Neujahrsfeuerwerk erinnert.
       
       Jetzt erscheinen bewaffnete Milizionäre in Schutzkleidung auf der
       Deribasowskaja. Sie erinnern an die gefürchtete Sondereinheit „Berkut“, die
       beschuldigt wird, auf dem Kiewer Maidan auf Demonstranten geschossen zu
       haben. Vor dem Gebäude einer Sprachenschule steht ein Lastwagen, geschmückt
       mit zwei ukrainischen Fähnchen. Ab und zu ist in der Ferne das Knistern von
       Feuerwerkskörpern zu hören.
       
       Männer ganz in Schwarz laufen die Straße entlang. Plötzlich erscheint ein
       Mann im mittleren Alter vor dem Wagen. Er trägt eine grüne Militäruniform,
       wie sie die Selbstverteidigungskräfte auf dem Maidan tragen, einen Helm und
       einen selbst gebasteltes Schutzschild. Sein Gesicht ist blutverschmiert.
       Schnell wechselt er einige Worte mit dem Fahrer des Wagens. Dann nimmt er
       aus dem Laderaum eine schusssichere Weste, streift sie sich über,
       umklammert den Schutzschild und verschwindet. Im Hintergrund heult die
       Sirene eines Krankenwagens, dann eines zweiten, eines dritten. In einer
       Straßenunterführung verstecken sich Verletzte. Einem jungen Mann wurde in
       den Fuß geschossen.
       
       Der 20-jährige Witalij ist entsetzt: „Viele Alte sagen, dass Faschisten die
       Menschen umgebracht hätten. Das kann aber nicht sein, wir haben ihnen doch
       geholfen, da rauszukommen. In den niedergebrannten Zelten der prorussischen
       Aktivisten standen Betten. Welcher Bewohner von Odessa würde dort
       übernachten, wenn er doch eine Wohnung in der Stadt hat?“
       
       ## Wegfahren oder kämpfen
       
       Der 36-jährige Alexander bereitet sich derzeit auf das Schlimmste vor. „Als
       in Kiew der Maidan begann, hab ich mich gleich gefragt, was ich tun soll.
       Ich habe zwei Geschäfte in Odessa. Ich habe überlegt, ob ich wegfahren und
       alles hinschmeißen soll. Die Menschen in Odessa sind wütend. Wir sind
       eigentlich friedliche Menschen, hier kann man sich immer irgendwie einig
       werden“, sagt er. Momentan interessiere ihn eher die Frage, woher er Waffen
       bekommen könne. „Ich lese gerade ein Buch mit dem Titel ’Einführung in den
       Partisanenkampf in städtischer Umgebung‘. Wenn es sein muss, werden wir in
       die Katakomben gehen. Odessa ist jetzt eine ukrainische Stadt“, sagt
       Alexander.
       
       Derzeit blicken in Odessa viele Menschen sorgenvoll auf den 9. Mai, den
       Jahrestag, an dem der Sieg der Sowjetunion über Nazi-Deutschland gefeiert
       wird. Sie befürchten, dass es zu neuen gewaltsamen Auseinandersetzungen
       kommen könnte. Nicht zuletzt aus diesem Grund haben die Veteranen
       angekündigt, zu Hause bleiben zu wollen. „Auch ich habe Angst“, sagt
       Natalja. „Angst vor russischen Truppen.“
       
       Aus dem Russischen von Ljuba Naminova
       
       6 May 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Kateryna Tetenko
       
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