# taz.de -- Kolumne Cannes Cannes: Niedergemähte Schamhaare
       
       > „Timbuktu“ ist der lakonische Wettbewerbsbeitrag des mauretanischen
       > Regisseurs Abderrahmane Sissako. Ihm wäre eine Auszeichnung zu wünschen.
       
 (IMG) Bild: Sehr lapidar verweist der Regisseur auf die Misogynie der Männer – Szene aus „Timbuktu“
       
       Kaum hat das Festival begonnen, läuft ein Film, dem ich aus vollem Herzen
       eine goldene oder silberne Palme wünsche: „Timbuktu“ von Abderrahmane
       Sissako, einem Regisseur aus Mauretanien. Sein Wettbewerbsbeitrag handelt
       davon, wie Dschihadisten in einen Ort in der Wüste Malis einfallen, wie sie
       ihn besetzt halten, wie sie die lokale Bevölkerung mit ihren Regeln – keine
       Zigaretten, keine Musik, kein Herumstehen in den Gassen, kein Fußball,
       außerehelicher Sex wird mit Steinigung bestraft – konfrontieren, wie sie
       die Menschen unter Druck setzen und wie diese damit umgehen.
       
       Das Tolle daran ist, wie Sissako, der schon mit seinen Filmen „Bamako“
       (2006) und „Heremakono“ (2002, der deutsche Titel lautete „Reise ins
       Glück“) überraschte, all dies nicht als das große Jenseits unserer
       Vorstellungskraft inszeniert, sondern als Alltag und Normalität. Und das
       heißt nicht, dass er die Härte und die Gewalttätigkeit der Situation
       ausspart oder bagatellisiert, im Gegenteil, er fängt sie von der ersten
       Szene an ein, aber auf eine lakonische Weise.
       
       Das hat eine kalte Wucht, ein wenig wie die Schüsse, die die Dschihadisten
       in der ersten Sequenz auf eine fliehende Gazelle abfeuern – sie klingen
       nicht wie das übliche, pausenlose Geratter eines Maschinengewehrs, sondern
       trocken, hohl und knapp. Oder wie eine Aufnahme von zwei Dünenhügeln: an
       der Stelle, an der sie sich überschneiden, wächst ein Gebüsch. Das erinnert
       an die Beine und das Schamhaar einer Frau, und wenn in einer Szene einer
       der Dschihadisten den Strauch mit dem Maschinengewehr niedermäht, dann ist
       das ein sehr lapidarer Verweis auf die Misogynie dieser Männer.
       
       „Timbuktu“ legt einen Handlungsstrang um eine Hirtenfamilie etwas
       akzentuierter an als die übrigen Stränge, doch vor allem entwirft Sissako
       ein Panorama, und mit wenigen Strichen gelingen ihm einprägsame Miniaturen:
       Wie der Imam versucht, die Dschihadisten davon abzuhalten, mit Waffen die
       Moschee zu betreten, und sie in einen Disput über die Auslegung des Korans
       verwickelt. Wie eine Marktfrau sich zu wehren versucht, als die Männer sie
       dazu zwingen wollen, Handschuhe zu tragen. „Wie soll ich den Fisch denn
       dann waschen?“, hält sie den Bewaffneten entgegen.
       
       Wie die Dorfnärrin sich einem der Jeeps in den Weg stellt und später
       erzählt, dass das Erdbeben, das am 12. Januar 2010 Haiti verwüstete, sie
       durch die Erdkruste hindurch getrieben habe. Und ausgerechnet an diesem Ort
       sei sie wieder aufgetaucht. Noch später tanzt einer der Extremisten einen
       exaltierten Tanz auf der Terrasse der Närrin.
       
       Was die Zeichnung der Dschihadisten angeht, will Sissako von den üblichen
       Plattitüden bärtiger Verstrahlter nichts wissen. „Jeder Mensch ist
       vielschichtig“, sagt er während der Pressekonferenz zu seinem Film. „Wer
       misshandelt, mag zugleich daran zweifeln.“ Allein wie er die Situation der
       Vielsprachigkeit in Szene setzt, ist bemerkenswert: Die Gotteskrieger, die
       vor allem aus Nordafrika, aus dem Nahen Osten und aus Saudi-Arabien kommen,
       müssen stets nach einer gemeinsamen Sprache suchen, oft brauchen sie
       Dolmetscher, und darüber, was gutes Arabisch ist, streiten sie unentwegt.
       
       In einer Szene sagt der Scharia-Richter, ihn befalle große Trauer, sobald
       er an die Tochter des Mannes denke, den er gerade zum Tode verurteilt hat.
       Diesen Satz solle der Dolmetscher nicht übersetzen. Als Sissako während der
       Pressekonferenz davon erzählt, stockt er. „Vielleicht weine ich an Stelle
       derjenigen, die wirklich gelitten haben.“
       
       Einzig der Einsatz extradiegetischer Musik stört. Dann erschrecke ich über
       mich selbst, weil mein cinephiler Wunsch nach Purismus Gefahr läuft, sich
       dem Reinheitswahn der Dschihadisten anzuverwandeln.
       
       16 May 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Cristina Nord
       
       ## TAGS
       
 (DIR) taz.gazete
 (DIR) Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes 
 (DIR) Kino
 (DIR) Film
 (DIR) Timbuktu
 (DIR) Film
 (DIR) Kino
 (DIR) Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes 
 (DIR) Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes 
 (DIR) Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes 
 (DIR) Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes 
 (DIR) Schwerpunkt Filmfestspiele Cannes 
 (DIR) Jean-Luc Godard
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Filmstart „Timbuktu“: Reine Unschuld gibt es nicht
       
       Auch Islamisten können ambivalent sein: In „Timbuktu“ entwickelt
       Abderrahmane Sissako eine stille Ästhetik des Widerstands.
       
 (DIR) Festivalleiterin über europäischen Film: „Wahnsinnig viel zu entdecken“
       
       Cineastisches Lustwandeln und diszipliniertes Abarbeiten – die
       Festivalkuratorin Christine Dollhofer ist beglückt über den europäischen
       Film, zumal in Zeiten der Krise.
       
 (DIR) Kolumne Cannes Cannes: Mein Name auf den Pobacken Fremder
       
       Die Produktionsfirma zeigt „Welcome to New York“, Abel Ferraras vom
       Festival verschmähte Adaption des Falls Strauss-Kahn. Ein unbehaglicher
       Film.
       
 (DIR) Kolumne Cannes Cannes: Der Stamm der Kokosnussköpfe
       
       „Jauja“ heißt der neue Film des Argentiniers Lisandro Alonso. Der Titel ist
       der Name eines mythischen Orts, an dem jedermann zu Reichtum kommt.
       
 (DIR) Kolumne Cannes Cannes: Helmut Berger ist wieder da
       
       Bertrand Bonello hat eine Dekade von Yves Saint Laurents Leben verfilmt.
       Aber nicht alle wollen dem Couturier beim Cruisen zusehen.
       
 (DIR) Kolumne Cannes Cannes: Große Abwesende
       
       Bei der Ehrung für Alain Resnais wird die Bühne gekapert. Und Céline
       Sciammas eröffnet die Quinzaine mit dem Banlieu-Film „Bande de filles“.
       
 (DIR) Kolumne Cannes Cannes: Grace – von hinten oder gerahmt
       
       „Grace of Monaco“ von Olivier Dahan widmet sich recht bemüht dem Hochadel.
       Das Schicksal der Frau bleibt auf Boulevard-Niveau.
       
 (DIR) Kolumne Cannes Cannes: Strauss-Kahn nur online
       
       Bei den 67. Filmfestspielen von Cannes werden im Wettbewerb vor allem Filme
       von bewährten Regisseuren zu sehen sein. Keine überraschende Auswahl.
       
 (DIR) Wettbewerbsfilme in Cannes: Viel Europa, wenig Frauen
       
       1.800 Einreichungen gab es für die Festspiele in Cannes, 18 Filme treten im
       Wettbewerb an. Von Leach bis Godard sind große Namen dabei – allerdings
       kein deutscher.